von Erhard Crome
Der Band „Flucht. Wie der Staat die Kontrolle verlor“ beginnt mit dem Hinweis, dass Österreich meist „eine seiner Größe angemessene Zuschauerrolle in der Weltpolitik einnimmt“, das Land sich in der Flüchtlingskrise zwischen September 2015 und März 2016 jedoch unversehens im Zentrum des Geschehens wiederfand, „nicht nur als Transit- und Asylland, sondern auch als Akteur auf der politischen Bühne. An wesentlichen Marksteinen der Krise waren österreichische Regierungsmitglieder an Entscheidungen beteiligt, die ganz Europa bewegten und beinahe aus den Angeln hoben.“ Das ist etwas reißerisch formuliert. Richtig ist: Ohne aktive Beteiligung Österreichs hätten sich Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien kaum getraut, die Grenze gegen den erklärten Willen der deutschen Kanzlerin zu schließen.
Vom Sommer 2015 bis Februar 2016 war etwa eine Million Flüchtlinge, viele aus dem Kriegsland Syrien, durch Europa geirrt. Tausende saßen in Idomeni, dem überfüllten griechischen Flüchtlingslager an der Grenze zu Mazedonien, in Regen, Schlamm und unzureichenden Zelten fest und versuchten, über die Grenze zu kommen. Der Ort war zu einer Arena geworden, die Aktivisten, Helfer und Journalisten anzog. Sie mühten sich, das Elend in berührenden Bildern und Meldungen einzufangen und die Empörung zu schüren. Alles stand und fiel mit der Entschlossenheit der mazedonischen Regierung, die Grenze zu schließen. Ende August und Anfang Dezember 2015 waren zwei ihrer Versuche gescheitert, die Grenze abzuriegeln. Ende Februar 2016 sollte es gelingen. Ungarn hatte Tausende Rollen NATO-Stacheldrahtzaun bereitgestellt, Slowenien, Kroatien, die Slowakei, Tschechien und Polen hatten Polizisten zur Verstärkung geschickt. Am 29. Februar 2016 setzten Hunderte Migranten zum Sturm auf die mazedonischen Grenze an. Sie wurden mit Tränengas zurückgetrieben.
Die griechische Regierung stellte dramatische Hochrechnungen für den Sommer 2016 auf und schlug Alarm. Die USA – zu jener Zeit noch unter der Obama-Regierung – hatten zwar selbst kaum Schutzsuchende aufgenommen, forderten jedoch ein Offenhalten der Grenze, weil sie eine Destabilisierung Griechenlands, also der NATO-Südflanke befürchteten. UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon geißelte die Grenzschließung als Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier erklärte, nationale Wege würden nicht zum Erfolg führen. Angela Merkel machte Stimmung gegen Österreich und betonte, es gelte, einen „europäischen Weg“ zu finden.
Sebastian Kurz, seit 2013 Außenminister Österreichs und zur Zeit des Geschehens 30 Jahre alt, wurde spätestens mit der Westbalkankonferenz, die er für den 24. Februar 2016 nach Wien anberaumt hatte, zum Gesicht der Grenzschließer. Viele fragten sich: Konnte er dem Druck der damals noch starken Kanzlerin standhalten? Zumal er selbst der mazedonischen Regierung Mut machen musste, dem Druck aus Berlin, Brüssel und Washington zu widerstehen. Tatsächlich war jedoch für „Realpolitiker“ in Berlin klar, dass Deutschland von der Schließung der Balkanroute profitiert. So hatte Kurz Verbündete in der deutschen Hauptstadt, zunächst einen besonderen Draht zu Ursula von der Leyen. Der Logik des Amtes nach hätte er den zum Außenminister haben müssen. Der war jedoch Sozialdemokrat, wie der damalige österreichische Bundeskanzler Werner Faymann. So hielt Kurz spezifischen Kontakt mit der Verteidigungsministerin, dann auch zu Innenminister Thomas de Maizière, sozusagen innerhalb der christdemokratischen Familie. Beide bat er, „ihre wohlwollende Haltung in Skopje zu deponieren und der mazedonischen Regierung bei der Grenzschließung den Rücken zu stärken. Ein Husarenstück: Der österreichische Außenminister organisiert Anrufe deutscher Minister in Mazedonien, damit sie dort auf informellem Weg die öffentliche Position ihrer Kanzlerin unterlaufen.“
Besonders gute Beziehungen hatte Kurz nach Bayern, vor allem zu CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer sowie zum früheren Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, der nach wie vor als besonders gut vernetzt in der CSU gilt. Ferner zu CDU-Finanzstaatssekretär Jens Spahn, sozusagen auf der Generationsebene der aufstrebenden Politiker.
Intensive Recherchen und Hintergrundgespräche mit Politikern und Beamten bilden die Grundlage des Buches. Eine zentrale Aussage lautet: Viele österreichische Minister und hohe Regierungsbeamte glauben, dass Merkel nicht wirklich hintergangen wurde, sondern ein stilles Einverständnis herrschte. „Weder im Bundeskanzleramt noch im Außenamt in Wien sind deutsche Interventionsversuche erinnerlich. ,Sie wollten uns nicht stoppen. Sie wollten nur nicht selbst als diejenigen gelten, die schließen’, sagt ein hochrangiger Diplomat.“ Einige Wochen nach Schließung der Balkanroute soll Wolfgang Schäuble Außenminister Kurz gefragt haben: „Hat sich Merkel schon bedankt?“
Der Band ist in vier Hauptteile gegliedert. Eingangs wird dargestellt, wie die Balkanroute sich im Sommer 2015 öffnete und mehr Flüchtlinge anzog, als zur selben Zeit über die Mittelmeerroute kamen. In der Region entstand eine „Kombination aus offenen Grenzen, Taktiken des Durchwinkens und einsetzender Torschlusspanik nach den angekündigten Abschottungsversuchen“, die eine gewaltige Dynamik auf der Balkanroute auslöste. Die Autoren verweisen auf eine Twitter-Nachricht des deutschen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25. August: „Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt von uns weitestgehend faktisch nicht verfolgt.“ Das sollte ein Vermerk für interne Zwecke sein, eine Maßnahme zur Beschleunigung der Asylverfahren, um die deutschen Bundesländer zu entlasten. Tatsächlich jedoch bekam die Hilfsorganisation Pro Asyl durch ein Leck Wind davon und verbreitete die Nachricht. So entfaltete sie eine Sogwirkung unter den Flüchtlingen, es wurde als Einladung nach Deutschland kommuniziert, und plötzlich waren alle Syrer. „Das mächtige Deutschland ist nicht in der Lage, die Informationen zu steuern.“ Bereits am 19. August gab de Maizière bekannt, dass er bis zum Ende des Jahres mit 800.000 Asylbewerbern rechne.
Der zweite Teil beschreibt, wie die Ausnahme zur Regel wurde. Österreichs Kanzler Faymann – über Treffen mit ihm soll Angela Merkel gesagt haben: „Er kommt mit keiner Meinung rein und kommt mit meiner Meinung wieder raus“ – folgte zunächst der deutschen Politik. Nachdem Ungarns Regierung die Flüchtlinge, die nach Deutschland wollten, weiterziehen ließ, öffnete am 4. September auch Österreich die Grenze zu Ungarn und nach Deutschland. Etwa 56.000 beantragten bis März 2016 in Österreich Asyl, Hunderttausende zogen weiter, ohne registriert zu werden. Das war Absicht, die Wiener Regierung befürchtete, falls das Dublin-Abkommen wieder in Kraft gesetzt würde, müsste Österreich diese Menschen aufnehmen. Im Januar 2016 sah die Regierung jedoch die Aufnahmekapazität des Landes erreicht und beschloss eine „Obergrenze“ von 127.500 Asylverfahren bis 2019, obwohl die Sozialdemokraten zuvor stets auf dem Grundrecht auf Asyl ohne Begrenzung bestanden hatten. Berlin und Brüssel reagierten verstimmt. Anfang März verlangte Faymann auch von Deutschland eine „Obergrenze“. Merkel müsse ein Signal setzen und der „Politik des Durchwinkens“ ein Ende bereiten. Österreich sei „kein Wartezimmer für Deutschland.“
Im dritten Teil wird die Schließung der Balkanroute beschrieben, der vierte behandelt verschiedene Folgen. Praktisch wichtig war eine Vereinbarung der Polizeichefs von Österreich, Slowenien, Kroatien, Serbien und Mazedonien, die am 18. Februar 2016 in Zagreb getroffen wurde. Doch politisch heftete sich Sebastian Kurz das Verdienst ans Revers: „Ich habe die Balkanroute geschlossen.“ Anfang Februar reiste er in verschiedene Balkanländer, um die Schließung der Grenzen zu besprechen, Griechenland blieb ausgespart. Nach der Balkankonferenz vom 24. Februar wuchsen die Reibungen mit der deutschen Regierung. Konservative deutsche Medien aber lobten Kurz. Angela Merkel erreichte schließlich ihre „europäische Lösung“ in Gestalt des Deals mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan. Doch Kurz und sein damaliger mazedonischer Amtskollege Nikola Poposki sind überzeugt: „Wäre das Tor an der mazedonisch-griechischen Grenze offen geblieben, hätte die EU den Deal mit den Türken gar nicht zustande gebracht. Erdoğan habe erst zugestimmt, als er erkannt habe, dass er als Türsteher Europas vielleicht gar nicht mehr benötigt werde.“
Die innenpolitischen Folgen sind weitreichend. „Durch die Flüchtlingskrise rückt die Parteienlandschaft kollektiv nach rechts, im Sinne einer restriktiveren Asyl- und Integrationspolitik. Für die SPÖ ist diese Wendung allerdings weitaus dramatischer als für die ÖVP.“ Während die Stimmung im Lande nach rechts schwenkte, kritisierte der linke Flügel der SPÖ den „Verrat“ Faymanns. Am 9. Mai 2016 trat er zurück. Christian Kern wurde neuer Bundeskanzler. Sebastian Kurz erwirkte jedoch angesichts der Differenzen zwischen ÖVP und SPÖ vorgezogene Neuwahlen am 15. Oktober 2017, die er gewann. Die ÖVP führte einen auf das Thema Flüchtlinge ausgerichteten Wahlkampf, während die SPÖ versuchte, Fragen der Umverteilung und der sozialen Sicherheit in den Vordergrund zu rücken, und scheiterte. „Natürlich war es die Flüchtlingsfrage, die unser Schicksal besiegelt hat“, sagte im Spätsommer 2017 einer von Faymanns engsten Mitstreitern.
Einer der Gründe, dieses Buch zu lesen, ist auch, zu verstehen, warum Sebastian Kurz, mit 31 Jahren der jüngste Regierungschef in Europa seit Menschengedenken, österreichischer Bundeskanzler werden konnte.
Christian Ultsch, Thomas Prior, Rainer Nowak: Flucht. Wie der Staat die Kontrolle verlor. Molden Verlag, Wien 2017, 208 Seiten, 22,90 Euro.
Schlagwörter: Angela Merkel, Asyl, Balkanroute, Erhard Crome, Flüchtlinge, Österreich, Sebastian Kurz