von Stephan Wohanka
Vor einem Jahr, am 9. Januar 2017, starb 91-jährig der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman. Er war einer der letzten aus der Garde jüdischer Intellektueller wie Fritz Stern, Hannah Arendt, Norbert Elias und Isaiah Berlin. Sie stehen dafür, dass „die Moderne“ und „das Jüdische“ zu Synonymen wurden: Die säkulare jüdische Geschichte war gekennzeichnet durch ihren Universalismus und ein Gefühl des Auserwähltseins. Bedingt durch die Jahrhunderte währende politische Machtlosigkeit scheinen weltliche Juden geradezu prädestiniert für die Außenseiterrolle des Intellektuellen. So fühlten sie sich berufen, gleiches Recht und zivilgesellschaftliche Emanzipation für alle Menschen zu fordern. Gleichzeitig bewahrten sie eine ironische Distanz zum eigenen Anspruch. Auch Bauman nahm diese doppelte Außenseiterrolle an, steht aber noch für mehr…
Postum wurde sein Essay „Retrotopia“ veröffentlicht (von Ulrich Busch in der ersten Blättchen-Nummer dieses Jahres rezensiert). Der Titel spielt, klar, mit Thomas Morus´ „Utopia“. Eine Spanne, ja Spannung ist deutlich … Sie steht nicht nur für die Zeitenläufe – darum geht es in „Retrotopia“ – , sondern prägte das Leben des Genannten. „Ja, es gibt Schönheit, und es gibt Erniedrigungen“, schreibt Albert Camus, und Bauman, der diesen Satz zitiert, hat beides erfahren: Die Schönheit des Seins und Denkens und auch die Erniedrigungen durch Macht(haber) und Umstände – manchmal, ohne sich ihnen zu beugen, und manchmal, indem er es doch tat, für manche im Übermaß.
Bauman wurde als Kind jüdischer Eltern 1925 in Poznań geboren. Die Familie floh 1939 vor den Nationalsozialisten in die Sowjetunion. Er selbst kehrte als Geheimdienstoffizier zurück. Von 1945 bis 1953 war Bauman Mitarbeiter der Gegenspionage; konkret im Korps für Innere Sicherheit des Innenministeriums, unter anderem damit befasst, unter dem Decknamen „Semjon“ Kämpfer des bewaffneten antikommunistischen Untergrundes zu „liquidieren“. Einige Historiker meinen auch, dass Bauman darüber hinaus an der Verbreitung kommunistischer Propaganda in der sich neu formierenden Volksarmee beteiligt war. Nota bene – all das erinnert an das Leben des „Literaturpapstes“ Marcel Reich-Ranicki; desgleichen als Jude Verfolgter (und Überlebender des Warschauer Ghettos) und mit Kriegsende Mitarbeiter der polnischen Geheimpolizei, zunächst im noch deutschen Schlesien, später im Auslandsgeheimdienst als Resident in London. Nur zufällige Parallele? Später hat Bauman seine Tätigkeiten bedauert, für manche wenig überzeugend und lange Jahre, nachdem er die Volksrepublik Polen hatte verlassen müssen und sogar schon sein Exil in Israel hinter ihm lag.
1953 wurde er aus dem Militär entlassen, da er einem „Liberalismus“ huldige, der ihn daran hindere, mit seiner „politisch und ideologisch“ falschliegenden Familie zu brechen, was seine „Untauglichkeit“ für den weiteren Dienst begründe. Jahrzehnte später räumte Bauman ein: „Als ich nach dem Zweiten Weltkrieg endlich die Armee verließ, fühlte ich mich zugleich völlig verloren. Denn dort wusste ich zu jeder Stunde genau, was ich zu tun hatte. Plötzlich musste ich Entscheidungen treffen. Das war traumatisch, und es dauerte eine ganze Weile, bis ich wirklich die Kunst des zivilen Lebens lernte. Das Freisein muss erst gelernt werden.“ Man meint, Erich Fromms „Escape from Freedom“ habe Pate gestanden.
Bauman studierte, wurde Hochschullehrer, habilitierte sich. Kurz darauf brach die in Polen bis heute virulente Mischung aus (gegenwärtig Anti)Kommunismus, namentlich stalinistischer Provenienz, Nationalismus und Antisemitismus in sein Leben ein – in den Quellen als „März-Unruhen 1968“ bezeichnet. Es handelt sich dabei um die brisante Zuspitzung schon längerfristig wabernder politischer Differenzen innerhalb der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP). Auslöser für erst nur studentischen Protest war die Absetzung der Warschauer Aufführung des Theaterstücks „Dziady“ („Totenfeier“) des polnischen Nationalbarden Adam Mickiewicz; der Inszenierung wurden zu Recht antisowjetische Tendenzen unterstellt. Nun brachen diese Fraktionskämpfe offen aus. Dabei standen sich zwei nicht ganz übersichtliche Lager gegenüber, die sich einerseits aus Nationalkommunisten, scharf antisemitisch eingestellten Funktionären und Stalinisten, andererseits aus jüdischen und/oder liberal(er)en reformistischen Parteifunktionären und -mitgliedern zusammensetzten und öffentlich um politische Dominanz rangen. Zugleich widerspiegelten diese Auseinandersetzungen antisemitische Strömungen in der Bevölkerung: Auch wenn – wie im Falle Reich-Ranickis – Polen Juden vor den Nazis retteten, wurde der Antisemitismus „zu einem Element des polnischen Patriotismus in den Ostprovinzen“ (Marek Wierzbicki). Juden wurden mit dem Sowjetsystem identifiziert. Die Unruhen wurden von Polizei- und den DDR-Kampfgruppen ähnlichen Einheiten brachial niedergeschlagen.
Als Student in Polen war ich Zeuge dessen, was sich abspielte: In „spontan“ organisierten Versammlungen unterstützten Betriebsbelegschaften den Kurs der Partei, wobei die Protestierer selbstgemalte Plakate „Precz z syjonizmem” (Nieder mit dem Zionismus) in die Kameras hielten. Nur welchen Kurs? Am nächsten Tag musste in den Medien erklärt werden, worum es sich beim Zionismus überhaupt handele. Die politische Konfusion war also riesig, der „Kampf gegen den Zionismus“ wurde zum allgegenwärtigen Schlagwort. Während der damalige Parteichef Władysław Gomułka in der Studentenschaft „Feinde des polnischen Volkes“ ausmachte, hetzten Nationalkommunisten gegen Reformer aller Couleur und unterstellten eine jüdische fünfte Kolonne in der Partei. Eine Streitschrift, die die politischen Frontstellungen thematisierte, trug den markanten Titel „Chamy i Żydy“, neben „Flegeln und Juden“ strichen auch wieder „Partyzanci“ (Partisanen) durchs politische Unterholz Volkspolens …
Die Affäre führte zu Emigrationswellen, die polnische Juden sowie nichtjüdische polnische Intellektuelle und Kulturschaffende ins Ausland trieben. Zwischen 1968 und 1970 verließen rund 30.000 teils hochqualifizierte Menschen Polen. Auch Bauman verlor seine Anstellung an der Universität Warschau und verließ Polen erneut – diesmal Richtung Israel. Man warf ihm später vor, dass anfangs seine „wissenschaftliche Karriere … nur die logische Fortsetzung seiner militärischen Laufbahn gewesen“ sei, wofür Titel und Inhalte sprächen: „Fragen des demokratischen Zentralismus in den Werken Lenins“ (1957) oder „Abriss der marxistischen Gesellschaftstheorie“ (1964).
Im Juli 2013 holten die Geister der Geschichte Bauman endgültig wieder ein: Zur Würdigung des 150. Jahrestages eines von Ferdinand Lassalle angeführten sozialdemokratischen Aufstands von der Universität Wrocław eingeladen, traf Bauman dort auf scharfe antisemitische Pöbeleien und antikommunistische Anwürfe. Die Universität wollte darüber hinaus dem betagten Wissenschaftler die Ehrendoktorwürde verleihen; auch das rief massive Proteste hervor und veranlasste Bauman, den Verzicht auf diese Ehrung zu erklären. Man nahm ihm auch seine Aussage übel, dass er „immer noch dem sozialistischen Gedanken an(hänge), dass die Qualität einer Gesellschaft danach zu beurteilen ist, ob ihre schwächsten Mitglieder ein gelingendes Leben führen können“. Der Vorwurf ist Unsinn. Als Soziologe steht Bauman geradezu für Kritik an autoritären politischen Systemen, an den sozialen und kulturellen Ausgrenzungen, die sie mit sich bringen, und an der Aushöhlung menschlicher Moral, die sie auslösen.
Hat Bauman sich moralisch diskreditiert? Hätte er, weil er über den Sozialismus als modernes Phänomen geschrieben hat, seine Beteiligung an diesem System zuvor erläutern müssen? Die Redlichkeit eines Autors ist schon eine Sache. Aber schmälert ihr Mangel das Verdienst, Wegweisendes, immer eingebettet in das jeweilige Zeitgeschehen, gesagt zu haben? Möglicherweise, zumindest in Polen …
Schlagwörter: Polen, Soziologie, Stephan Wohanka, Zygmunt Bauman