20. Jahrgang | Nummer 25 | 4. Dezember 2017

Natur hinterm Haus

von Erhard Weinholz

Früher hatten Autoren, zu jener Zeit auch Dichter genannt, meist einen Genius oder eine Muse bei sich. Heine stand gar ein Gehilfe zur Seite, der ein verhülltes Richtbeil mit sich führte. Heutzutage ist dergleichen nicht mehr üblich. Ich habe nur einen kleinen schwarzen Vogel, eine Art Pinguin, einschließlich Saugfuß gut zwei Zentimeter hoch. Er steht auf meinem PC-Tisch und nennt sich Die Stimme der Kritik. „Was schreibst’n da?“ Eine richtige Ohrensäge ist sein Organ. „Wieder über DDR? Ohne DDR, sei mal ehrlich, könntste doch einpacken. Könntste bloß noch über deinen Fußpilz schreiben.“ „Ich habe keinen Fußpilz.“ „Das war symbolisch gemeint, du Blödmann. Oder machs doch wie der, na wie heißt er gleich, von dem Wochenblatt, weeßt schon. Wenn dem nüscht einfällt, schreibt er über seinen Garten. Muß keen Ratgeber sein, kannst auch über Pleiten plaudern. Oder nimmste euern Balkon – vielleicht haste damit sogar mal Erfolg?“
Danke, aber der Balkon stand ohnehin auf meiner Themenliste. Dreieinhalb mal zwei Meter misst er, hat zwei Türen und weist Richtung Osten hinaus auf einen weiten Hof. Auf dem Grundstück nebenan standen lange Zeit nur ein paar Garagen, und auch unser Haus ist recht neu – Bomben haben hier einst eine Schneise geschlagen, die uns nun zugutekommt. Viel Grün hat sich auf dem Gelände angesiedelt: Halblinks, vor einer Seitenwand, stehen Erlen, weiter hinten Büsche, hohe Bäume, deren Namen ich nicht weiß. Geräumig also ist dieser Hof und doch meist still. Manchmal übt jemand auf dem Klavier Für Elise. Oder ein Mitarbeiter aus dem Architektenbüro im Nebenhaus steht im Garten und telefoniert. In der Fahrschule unter uns werden gelegentlich Liebes- und Lebensgeschichten erzählt, Streitigkeiten ausgetragen. Selten hört man Straßenlärm. Hin und wieder randalieren nachts irgendwo in der Ferne volltrunkene Touristen. An Sommerabenden sind lautlos die Fledermäuse unterwegs, zwei oder auch mal drei.
Richtung Osten, das heißt: Im Sommer ist, will man draußen sitzen, der Sonnenschirm wichtig. Ich hatte lange herumgesucht nach unserem Einzug und schließlich in einem Baumarkt draußen am Flughafen Schönefeld einen gefunden, der uns gefiel – wir haben noch ein Foto von ihm. Eines stürmischen Tages flog er davon. Einen eisernen Tisch gibt es noch, zwei Holzstühle, und an den Schmalseiten links und rechts stehen Balkonkästen. Ältester Bewohner ist der Russische Wein – ich hatte einfach mal einen Trieb davon bei uns in den Boden gesteckt. Der Knöterich dagegen, der anderswo wild wuchert und im Frühjahr alles überflutet mit seinen weißen Blüten, wollte nicht gedeihen. Manchmal pflanze ich auch Gewächse ein, die andere ausgesetzt haben, weil ihre Blütezeit vorbei ist. Doch alle haben nach einiger Zeit die Blätter gestreckt. Dann hatten wir es mit Samen versucht, die es im Laden einer alternativen Tageszeitung gab. Sie keimten gut, sprießten munter, mir war aber, als hätte ich die Pflanze schon des Öfteren an Straßenrändern und auf Schuttplätzen gesehen: Es war der Weiße Gänsefuß, Chenopodium album, leicht zu erkennen an den weiß bemehlten hellgrünen Blütenknäueln. Früher wurde er gern verfüttert; auch als Salat ist er zu gebrauchen. Der Kosmos-Pflanzenführer aus dem Jahre 1978 nennt ihn ein Unkraut – aber der Begriff ist aus guten Gründen in Verruf geraten.
Dieses Frühjahr hatten wir Sämereien aus der Kaufhalle in die Erde gebracht, Kapuzinerkresse und irgendeine Sommerblumenmischung. Die Kresse wucherte am Boden entlang nach allen Seiten, zeigte auch recht ansehnliche Blätter, nur blühen wollte sie nicht. Die Sommerblumen blieben eher kümmerlich und blühten nun schon gar nicht. Erst jetzt, da der Sommer längst vorbei ist, brachten sie drei kleine blaue Blüten hervor. Zwei große orangegelbe sind vor kurzem noch an der Kresse aufgebrochen, und daneben steht das Franzosenkraut mit seinen weiß umblätterten kleinen gelben Knöpfen – es ist ein Blühen dort wie zuvor das ganze Jahr über nicht.
Mehr ist aber kaum zu erwarten, es geht deutlich auf den Winter zu; der Rundfunk meldet von hier und da schon erste Fröste. Bald werden wir das Vogelhäuschen aus dem Keller holen; Sonnenblumenkerne haben wir noch vom Vorjahr. Denn größeren Zulauf hatten wir auch letztes Mal wieder erst zum Frühjahr hin. Meist finden sich Spatzen ein, seltener die scheuen Meisen, ganz selten mal ein Rotkehlchen. Gegen die dicken Tauben, die manchmal einfliegen, kommen sie natürlich allesamt nicht an. Ein sonderbares Verhalten habe ich dort ab und an beobachtet: Obwohl man an den offenen Längsseiten mühelos ins Innere kommt, versuchen einige Vögel sich durch eines der beiden kleinen Löcher in den Querwänden zum Futter hindurchzuzwängen; schaffen sie es nicht, fliegen sie wieder fort.
Auch im Winter stehen die Türen zum Balkon mehrmals am Tage offen, doch hereingewagt hat sich bislang keiner der Vögel. Vor bald vierzig Jahren habe ich so etwas einmal erlebt: Als ich an einem frühen Abend zurückkam in meine Wohnung, mein großes, dämmriges Zimmer, saß dort auf einer Stuhllehne ein Star. Ich sprach ihn an, er flüchtete, verfehlte aber die offenen Oberlichter, prallte gegen die Scheibe und fiel aufs Fensterbrett. Ich nahm ihn in die Hand, spürte seinen Herzschlag und fühlte auf einmal eine Verbundenheit mit all den Tieren ringsum wie nie zuvor, fand es beschämend, wie der Mensch mit diesen seinen älteren, doch minder fähigen Brüdern umgeht. Rücksichtslos geizend und verschwenderisch zugleich ist die große Masse unserer Spezies, nicht klug, sondern allenfalls schlau. Doch lange wird sich dies schädlichste Wesen aller Zeiten mit solcher Lebensweise wohl nicht mehr halten; ich befürchte nur, dass es nicht ohne größte Zerstörungen abtreten wird.
Hin und wieder denke ich schon ans nächste Jahr. Bislang haben wir viel unternommen für unsere Pflanzungen, doch hat es wenig erbracht. Vielleicht säen wir nun einmal gar nichts aus, warten ab, was der Wind uns zuträgt und was sonst noch ohne unser Zutun sprießt.