von Jerry Sommer
Die Türkei hat kürzlich mit Russland einen Vorvertrag über den Kauf von S-400- Flugabwehrsystemen im Wert von zweieinhalb Milliarden Dollar abgeschlossen. Auch Saudi-Arabien beabsichtigt, dieses Waffensystem zu kaufen. Und Bahrein hat ebenfalls Interesse bekundet. Damit dringt Russland in einen Markt ein, der bisher fast ausschließlich von US- und westeuropäischen Rüstungskonzernen dominiert wurde. Bereits das Vorgängermodell S-300 ist an eine Reihe von Staaten exportiert worden, darunter sind China, Indien, der Iran, Ägypten, Venezuela und Vietnam. Das moderne S-400-System hat Russland bisher nur an China und Indien verkauft.
Dieses mobile, auf Lastwagen gestützte Luftabwehrsystem ist in der Lage, angreifende Flugzeuge sowie Raketen zu zerstören. Bis zu 36 Ziele soll es innerhalb von einer Minute gleichzeitig bekämpfen können. Technisch entspricht es den modernsten westlichen Luftverteidigungssystemen, zum Beispiel dem amerikanischen Patriot-System. Der Rüstungsexperte und Oberst a.D. Wolfgang Richter von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik schätzt ein; „Wenn sie jetzt die modernere Version der Patriot, die PAC 3, nehmen, haben wir durchaus vergleichbare Systeme, was die Lenkverfahren, die Genauigkeit, die Störresistenz der Lenkung betrifft. Wir haben allerdings einen etwas größere Reichweite bei den S-400.“
Gegen Flugzeuge hat das System eine Reichweite von 400 Kilometern, gegen ballistische Raketen eine von 60 Kilometern. Wie alle Flugabwehrsysteme hat aber auch das S-400 Schwierigkeiten, niedrig fliegende Marschflugkörper abzuschießen. Das könnte auch ein Grund gewesen sein, warum im April dieses Jahres das in Syrien stationierte russische S-400-System nicht gegen angreifende US-Marschflugkörper eingesetzt worden ist. Ziel des US-Militärschlags war ein Militärstützpunkt, von dem nach Angaben der USA syrische Kampfflugzeuge Giftgasangriffe gestartet haben sollen. Experten vermuten aber auch, dass Russland über den geplanten Luftangriff der USA vorab informiert war und die politische Entscheidung getroffen hatte, nicht einzugreifen.
Der genaue Preis des S-400-Systems ist nicht bekannt. Aber es dürfte aller Erfahrung nach weniger kosten als das Patriot-System. Russland ist zudem weit mehr als die USA dazu bereit, auch die entsprechende Technologie und das Know-how in die Käuferländer zu exportieren. Das könnte zum Beispiel der Türkei helfen, die eigene Rüstungsindustrie deutlich auszubauen. Für das NATO-Mitglied Türkei und für Saudi-Arabien dürften aber noch weitere Gründe für das S-400 gesprochen haben. Siemon Wezeman vom Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstitut (SIPRI) meint: „Die Waffen werden von einem Staat geliefert, von dem man nicht kritisiert wird. Menschenrechte oder der Krieg im Jemen – das ist für Russland kein Thema.“
Auch wollen das NATO-Mitglied Türkei und die nahöstlichen Feudalstaaten offenbar ein politisches Signal setzen und sich etwas unabhängiger machen von den USA und anderen westlichen Rüstungslieferanten. Allerdings: Die bisherigen und die geplanten Rüstungsexporte zum Beispiel der USA in diese Region übersteigen das Ausmaß russischer Waffenlieferungen weiterhin um ein Vielfaches.
Solche politischen Überlegungen erklären die Bereitschaft in Ankara und Riad, einige mit dem Kauf des S-400-Systems verbundene Nachteile in Kauf zu nehmen. Das S-400 könnte zwar prinzipiell mit den schon in der Region vorhandenen westlichen Systemen vernetzt und in die NATO-Luftverteidigung integriert werden. Doch insbesondere die USA würden einem solchen Schritt nicht zustimmen, glaubt Siemon Wezeman: „Die Amerikaner haben den Türken schon gesagt: Wir werden euch nicht helfen, das S-400 in das NATO-System zu integrieren. Denn an diesem Prozess müssten viele Russen beteiligt werden. Und denen werden wir niemals erlauben, sich das NATO-System genau anzuschauen.“
Moskau hat in den vergangenen Jahren einiges investiert, um seine Rüstungsindustrie komplett zu modernisieren. Neben den Flugabwehrsystemen sind auch die Kampflugzeuge technisch relativ ausgereift. 40 Prozent der russischen Rüstungsexporterlöse bestanden in den vergangenen Jahren im Verkauf von Kampfflugzeugen. Auch in anderen Bereichen kann sich die Qualität russischer Waffen mit westlichen Technologien messen. Wolfgang Richter: „Wir haben bei den Systemen der Landstreitkräfte neuere Entwicklungen im Kampfpanzerbereich – ich denke da an den Armata – und wir müssen sehen, dass im gesamten Bereich der Heeresbewaffnung – ob es Schützenpanzer sind oder ob es die Artillerie ist oder weitreichende Mehrfachraketenwerfer – die russische Technologie nach wie vor eine Spitzentechnologie ist, die durchaus mit der westlichen Technologie mithalten kann und in Teilbereichen sogar Vorsprünge aufweist.“
Nach SIPRI-Berechnungen kam im Zeitraum 2012 bis 2016 ein Drittel aller Großwaffen-Exporte weltweit aus den USA. Zweitgrößter Rüstungsexporteur ist Russland – mit einem Anteil von 23 Prozent.
Moskaus künftige Aussichten beurteilt Wezeman differenziert: „In den nächsten Jahren werden die Rüstungsexporte gut laufen. Aber auf längere Sicht – also in 15 bis 25 Jahren – werden die Russen große Probleme bekommen.“ Denn die Wettbewerbsfähigkeit russischer Waffen hänge auch ab von der Entwicklung der Ausgaben für Militär und Rüstung im eigenen Land. Und diese würden in Zukunft sinken – wegen der ökonomischen Probleme Russlands. Wezeman: „Sie können nicht weiterhin so viel für das Militär ausgeben – mehr als fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Damit werden Russland Militärausgaben nicht viel höher sein als zum Beispiel die von Frankreich. Doch nicht Frankreich, sondern die USA und China stecken sehr viel Geld in die Rüstung – weit mehr als Russland. Diese Länder investieren viel Geld in militärische und auch in allgemeine Forschung. Und das ist letztlich entscheidend für eine effiziente Rüstungsindustrie.”
Gegenwärtig gehen elf Prozent der russischen Rüstungsexporte nach China. Doch die chinesische Rüstungsindustrie wird immer leistungsfähiger – auch weil sie russische Waffentechnologie einfach illegal kopiert hat. China ist inzwischen dabei, Kampfflugzeuge, Flugabwehrsysteme und andere Waffen, die Peking bisher von Russland gekauft hat, selbst herzustellen und sogar zu exportieren. Auf dem internationalen Rüstungsexportmarkt ist China in den letzten Jahren schon auf den dritten Platz aufgestiegen.
Auch andere traditionelle Rüstungsexportmärkte Russlands drohen zu schrumpfen: So sind in den vergangenen fünf Jahren rund zehn Prozent aller russischen Waffenexporte nach Algerien gegangen. Doch inzwischen kauft die Regierung in Algier zunehmend in westlichen Ländern. Und das für Russland wichtigste Land, Indien, in das bisher zwei Drittel aller russischen Waffen exportiert wurden, ist dabei, sich umzuorientieren, meint Siemon Wezeman: „Die Inder interessieren sich immer mehr für westliche Waffen, vor allem aus den USA. Und Indien hat damit begonnen, vermehrt Waffen bei seinen privaten Unternehmen zu bestellen anstatt bei der staatlichen indischen Rüstungsindustrie. Die privaten Unternehmen sind aber nicht so sehr an einer Zusammenarbeit mit Russland interessiert. Sie arbeiten lieber mit westlichen Unternehmen zusammen.”
Die Zukunftsaussichten der russischen Rüstungsindustrie sind also nicht allzu rosig. Daher nutzt Moskau jede Möglichkeit, neue Märkte zu erschließen, unter anderem mit Rüstungsgütern wie dem S-400-System. Und wie alle Länder, die Waffen exportieren, erhofft sich auch Moskau durch Rüstungsexporte nicht zuletzt politischen Einfluss in den Käuferländern.
Dieser Text ist die leicht bearbeitete Version eines Beitrages für „Streitkräfte und Strategien“ (NDR-Info, 3.12.2017).
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