von Dieter Naumann
Vor 220 Jahren, 1797, schätzte der Anklamer Karl Nernst, Verfasser der 1800 in Düsseldorf verlegten „Wanderungen durch Rügen“, die einen der ersten gedruckten Reiseberichte darstellen, der sich ausschließlich mit Rügen befasst, nach einem Besuch ein: „Man sollte nicht so sehr darauf dringen, Sagard als eine solide Gesundheitsanstalt, sondern vielmehr als einen heilsamen Vergnügungsort anerkannt zu sehen.“
Was hier so sarkastisch beurteilt wird, kann als die erste offizielle rügensche Badeanstalt bezeichnet werden – die Sagarder „Brunnen-, Bade- und Vergnügungsanstalt“. Der erstmals 1250 erwähnte kleine Jasmunder Ort besaß eisen-, kalk- und kohlensäurehaltigen Quellen, die bereits zwischen 1750 und 1765 so fleißig besucht gewesen sein sollen, dass oft 30, 40 und mehr Gäste am Tag zu verzeichnen waren, obwohl es keinerlei Brunneneinrichtungen gab, keine Badeanstalten, keine Quartiere für die Badegäste und sich der Brunnen selbst ohne jeden Schutz vor Verunreinigungen präsentierte. Diese Mängel führten wohl auch dazu, dass der Brunnen zunächst für einige Jahrzehnte in Vergessenheit geriet.
1795 eröffnete der umtriebige und mit seiner seelsorgerischen Tätigkeit offenbar nicht ausgelastete Sagarder Pfarrer Heinrich Christoph von Willich (1759–1827) zusammen mit seinem Stiefbruder, dem Bergener Landphysikus Dr. Moritz Ullrich von Willich (1750–1810), die „Brunnen-, Bade- und Vergnügungsanstalt“, bei der man sich nicht mehr nur wie bei der Jahrzehnte zuvor eingegangenen Vorgängerin auf die Wirksamkeit des Brunnenwassers allein verließ, sondern auch „Quartiere für Brunnengäste und Absteige-Quartiere, Speise-Häuser, Koffee-Schenke u. s. w.“ sowie „Vergnügungen beym Gesundbrunnen zu Sagard“ organisierte.
Kernstück der Brunnenanlage war das im Fachwerkstil errichtete Brunnenhaus, in dem man durch den Haupteingang zunächst den so genannten Versammlungssaal betrat, von dem zwei Kabinette abgingen. „[…] in jedem dieser Kabinette“, schrieb Dr. Willich, „stehet ein Bette für eine Person und aus diesen Kabinetten steiget man durch Hülfe einer hangenden Treppe, die ein jeder Badende, vermöge einer leichten Winde selbst hinunter lassen und wieder herauf ziehen kann, in ein Stein- oder Kaltes-Bad.“ Kaltes Wasser wurde durch Röhren direkt aus dem Gesundbrunnen eingeleitet, heißes Wasser kam ebenfalls über Röhren aus dem „großen Siedekessel“ der angrenzenden Küche. In einem der beiden Bäder war an der das kalte Wasser führenden Röhre „die Anstalt zum Douch- oder Spritz-Bade“ angebracht. Zusätzlich gab es ein Sturzbad, eine damals „in Deutschland annoch seltene Anstalt“, wo das „aussen durch Kunst“ in zwei Ellen Höhe gepumpte Wasser des Sagarder Baches durch ein Ventil eingelassen wurde. Das Sturzbad, „von dem uns die Engländer so viel Gutes gesaget haben“, sollte zumindest am Anfang nie ohne Begleitung genutzt werden, „weil doch manche Umstände vorkommen können, wobey der Badende Hülfe oder Handreichungen nöthig haben könnte“. In einem Raum mit Wannenbädern, in die das Wasser mit Kübeln befördert werden musste, konnte der Badegast ebenfalls nach dem Bad in einem Bett ruhen. Landphysikus Willich erwartete gerade von den kalten Bädern großen Nutzen, empfahl aber dringend, sie nie ohne vorherigen medizinischen Rat zu gebrauchen, weil sie ansonsten sehr leicht großen Schaden anrichten könnten. In seiner Neuere(n) Nachricht vom Gesundbrunnen zu Sagard forderte er später sogar einen von einem ordentlichen Arzt ausgefertigten „Anweisungszettel“ zum Baden, der dem „Brunnendirectorio“ vorzulegen sei, anderenfalls würde man im eigenen Interesse nicht zum Bad zugelassen.
Fast 37 Seiten (Werbung musste schon damals sein) verwendet der Landphysikus auf die Beschreibung der „Bestandtheile des Sagardschen Brunnenwassers“, der „Wirksamkeit des Sagardschen Mineralwassers im allgemeinen“ und des „Nutzen(s) des Sagardschen Mineralwassers bey einzelnen Krankheiten insbesondere“, wobei er vorsichtig genug war, nicht „jetzt schon zu behaupten, das Sagardsche Brunnenwasser hebe diese oder jene Krankheit ohnfehlbar“. Ein Jahr später vermerkte er, dass der Mineralbach zumindest „bey zweyen Brunnengästen“ unter anderem „eine vortrefliche Ausleerung, eines zähen Schleimes, durch die Brust, bewürkte und dadurch gar große Erleichterung verschaffte“. Einer der „zwey Brunnengäste“ soll ein Berliner Druckereibesitzer gewesen sein. Christoph Wilhelm Hufeland, der Chemiker Martin Heinrich Klaproth und andere Ärzte und Apotheker untersuchten das kohlensäurehaltige Wasser und stellten tatsächlich eine gewisse fördernde Wirkung fest, mahnten aber genauere Prüfungen an. Johann Jacob Grümbke, Begründer der rügenschen Heimatforschung, konnte „bezeugen, daß das Wasser außerordentlich klar ist und einen etwas zusammenziehenden Geschmack hat“ – was auch immer dies bedeuten sollte.
Im März 1796 konnte Landphysikus Willich in der in Rostock, Stralsund und Greifswald vertriebenen Neuere(n) Nachricht vom Gesundbrunnen zu Sagard ein erstes Fazit zur Versorgung der Brunnengäste ziehen: „Für nöthige Bedürfnisse des Lebens war theils in den Sagardschen, zum theil neu angelegten Küchengarten, theils von dortigen schlachtenden Einwohnern und theils durch besprochene Zufuhr, von andern benachbarten Orten her, eben so, wie für Quartiere, Speise-Häuser und manche andere nöthige Dinge, gesorget, wohin vorzüglich allerlei Sorten Weine gehören, so daß man nirgends Klagen des Mangels, des Schlechten, oder der Theuerung hörte.“ Folgerichtig lobte der seinerzeit bekannte Musikkritiker, Instrumentenhändler und Verleger Johann Carl Friedrich Rellstab, der das Bad bereits ein Jahr nach seiner Gründung besuchte und im „dortigen Wirtshause oder Absteigequartier bei Herrn Steffen ein und einen halben Tag“ zubrachte, dass die „Zehrungskosten […] äußerst wohlfeil“ waren und sogar „noch unter denen vom Herrn v. Willich festgesetzten Preisen“ lagen. „Betten, Speise, Zimmer, alles war gut, nur aus der übertriebenen Gesellig- und Gefälligkeit des Wirths (vom „Lindenhaus“ – d. A.), vermuthete ich eine große Rechnung, und erhielt eine um die Hälfte weniger als ich gedacht hatte.“
Die Mehrzahl der Badegäste kam im Eröffnungsjahr von der Insel Rügen, fast ausschließlich Vertreter des rügenschen (Land-) Adels der damaligen Zeit. Gäste kamen aber auch aus Stralsund, Bergen und Greifswald, aus Pommern, Sachsen, Berlin und anderen Orten, ausländische Gäste aus Schweden, Italien und England.
Das Journal der Moden und des Luxus, zur damaligen Zeit einer der „Bestseller“ unter den Periodika, berichtete mehrfach „Ueber die neueingerichteten Bäder zu Sagard, auf der Insel Rügen“: Die Quartiere seien fast alle erträglich, die Bewohner freundlich, gefällig und bescheiden, die Wirtshäuser leidlich, „so auch das Essen“. Alles sei noch ziemlich wohlfeil, jedenfalls wohlfeiler als in anderen Badeorten. „Der Ton in Sagard ist der geselligste, ungezwungenste, den man sich wünschen kann. Niemand beträgt sich dort ungesittet, und Niemand sondert sich ab. Alles athmet den gemeinschaftlichen Frohsinn.“ Das Journal zeigte sich zunächst recht optimistisch, was die Entwicklung des Gesundbrunnens betraf. So habe sich das aufmerksame Auge des „so gnädigen Königes Gustavs des 4ten Adolphs“ auf die Anlage gerichtet, was eventuell zu ihrer Verbesserung und Erweiterung beitragen könnte. Aber schon im Dezember 1805 muss das Blatt feststellen, dass die Brunnenanlage im Sommer nicht sehr gut besucht war. Schlechtes Wetter, das Verbot, Pferde vom Festland auf die Insel zu transportieren, aber auch Ignoranz gegenüber den Naturschönheiten von Jasmund werden als Ursachen genannt. Auch habe das Volk auf Rügen gelernt, „einen höheren Werth auf seine Dienste zu legen: und die Fuhren, sowohl zu Wasser als auch zu Lande muß man theuer genug bezahlen“. Vor allem die Sassnitzer Fischer seien wohl der Meinung, dass es „Recht sey, die aus der Ferne kommenden Leute tüchtig bezahlen zu lassen“. Der unbekannte Verfasser des Artikels („R.“) versteigt sich sogar zu der Behauptung, „Ungefälligkeit und Habsucht scheint ein Charakterzug der Rügener zu sein […]“.
Etwa 1807 ging der Betrieb im Zusammenhang mit den Kriegsereignissen und der französischen Okkupation ein. Der 1818 vom bürgerlichen Pächter Bartels unternommene Versuch, den Kurbetrieb wieder zu beleben, musste wegen der Konkurrenz durch Putbus/Lauterbach scheitern. Ernst Boll, Universitätsprofessor, Privatgelehrter und Heimatforscher, schrieb 1858 ohne nähere Erläuterung, die Badeanstalt sei zwischen 1820 und 1830 „wegen theologischer Bedenken“ eingegangen und alle für sie gemachten Einrichtungen seien jetzt verschwunden.
Heute erinnern nur noch der Name „Brunnenaue“, die Grabstätte von Pastor Willich an der Kirche sowie die „Historische Parkanlage Brunnenaue“ an die ehemalige „Brunnen-, Bade- und Vergnügungsanstalt“.
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