von Mathias Iven
Es gibt sie immer wieder: die sprichwörtliche „Parallelaktion“. Und so liegen jetzt – bereits ein Jahr vor dem eigentlichen Jubiläum – gleich mehrere Bücher vor, die sich mit den Ereignissen, besonders aber mit den Hauptakteuren der Münchner Räterepublik befassen. Vor allem sind es zwei Autoren, die in erster Linie all diejenigen Beteiligten und Zeitzeugen zu Wort kommen lassen, die „sich zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort kaum in der Politik wiedergefunden“ hätten.
Ralf Höller, von dem diese Einschätzung stammt und der sich bereits 1999 mit dem Thema beschäftigt hat, gab seinem Buch den an Heine erinnernden Titel „Das Wintermärchen“ und verweist im Untertitel auf die von ihm gewählte Herangehensweise: „Schriftsteller erzählen die bayerische Revolution und die Münchner Räterepublik“. Ähnlich geht Volker Weidermann vor, der zuletzt mit dem biografisch-dokumentarischen Roman „Ostende“ brillierte. Auch bei ihm sind es zuvorderst die Dichter, die uns die Atmosphäre der turbulenten Wochen zwischen dem 7. November 1918 und dem 1. Mai 1919 nahebringen. Selbst wenn es zwangsläufig zu Überschneidungen bei den schon oft zitierten Dokumenten kommt, so sollten die am Verlauf und den Hintergründen Interessierten unbedingt beide Bücher lesen. Zumal Höller mit dem sachlich-distanzierten Blick des Historikers auch die dem „Spontanumsturz“ vorangehenden Geschehnisse en détail schildert, vor allem aber seine Quellen im Anmerkungsteil exakt nachweist, wohingegen der mitreißend schreibende Weidermann nur eine drei Seiten umfassende Bücherliste zur Verfügung stellt.
Doch was geschah eigentlich damals? „Es kommt nicht zur Reichstagswahl, vor dem 17. November kommt die Revolution.“ Kurt Eisners im Münchner Löwenbräu-Keller ausgesprochene Prophezeiung sollte sich bewahrheiten. – „Wer für die Revolution ist, uns nach! Mir nach! Marsch!“, so tönt am 7. November 1918 der Ruf von Eisners Vertrautem Felix Fechenbach über die Theresienwiese. Noch bevor die Revolution Berlin erreicht und der Kaiser gestürzt wird, verlässt Bayerns greiser König Ludwig III. mit einer Schachtel Zigarren unter dem Arm das Münchner Palais der Wittelsbacher. Der Sozialdemokrat Eisner ruft am Abend die Republik aus, erklärt Bayern zum Freistaat und sich selbst zum Regierungschef. In dem in der Nacht zum 8. November verabschiedeten und von ihm unterzeichneten Aufruf an die Münchner Bevölkerung verkündet er: „Vertraut dem Großen und Gewaltigen, das in diesen schicksalsschweren Tagen sich vorbereitet! Helft alle mit, daß sich die unvermeidliche Umwandlung rasch, leicht und friedlich vollzieht.“
München wird von einer euphorischen Stimmung beherrscht. Eisner kann es kaum glauben, dass alles so widerstandslos verläuft. Die ersten Tage nach der Machtübernahme, so charakterisiert sie Weidermann, sind „Karnevalstage der Demokratie“. – Am 17. November versammelt man sich zur Revolutionsfeier im Königlichen Theater, das jetzt Nationaltheater heißt. Bruno Walter dirigiert Beethovens Leonoren-Ouvertüre, danach ergreift Eisner das Wort: „Was wir in diesen Tagen erlebt, ist ein Märchen, das Wirklichkeit geworden.“ Er fordert den Übergang zur permanenten Demokratie: „Wir wollen die ständige Mitarbeit aller Schaffenden in Stadt und Land.“
In den kommenden vier Wochen weicht die Euphorie jedoch der Ernüchterung. Müdigkeit und Gereiztheit bestimmen den Alltag. Der Schriftsteller Oskar Maria Graf bringt es auf den Punkt: „Diese Münchner Revolution war ein Gaudium für ihre Gegner. Sie war langweilig, sie war harmlos, sie war unerträglich. Sie war eine Posse, und noch dazu eine schlechte.“ In seiner Rede vor dem provisorischen Nationalrat hatte Eisner am 3. Januar 1919 den Wunsch geäußert, dass sich seine Minister mit Theaterstücken an der „Neubeseelung des Volkes“ beteiligen. Was erwartete er? Als am 12. Januar die Stimmzettel zur Wahl des verfassunggebenden Landtages ausgezählt sind, wird klar, wie die bayerische Bevölkerung zu Eisner steht: gerade einmal 2,5 Prozent der Wähler stimmen für Eisners USPD, das bedeutet drei von 180 Mandaten des neuen Landtages.
Fünf Wochen später, am 21. Februar, ist Eisner tot. Er hatte immer wieder Drohbriefe erhalten, doch jeglichen Schutz abgelehnt. Zu Fechenbach sagte er nur: „Man kann einem Mordanschlag auf die Dauer nicht ausweichen, und man kann mich ja nur einmal totschießen …“ Der Attentäter, Anton Graf von Arco auf Valley, der damit rechnete, bei dem Anschlag selbst getötet zu werden, hatte zuvor auf einem Zettel für die Nachwelt festgehalten: „Mein Grund: Ich hasse den Bolschewismus, ich liebe mein Bayernvolk, ich bin ein treuer Monarchist, ein guter Katholik. Über alles achte ich die Ehre Bayerns. […] [Eisner] ist Bolschewist. Er ist Jude. Er ist kein Deutscher. Er verrät das Vaterland – also…“
Am 26. Februar wird Eisner zu Grabe getragen. 100.000 Menschen folgen seinem Sarg. „Die hundert Tage der Regierung Eisners haben mehr Ideen, mehr Freuden der Vernunft, mehr Belebung der Geister gebracht als die fünfzig Jahre vorher“, so heißt es in Heinrich Manns Rede auf der Trauerfeier im Münchner Odeon. Ricarda Huch, für Thomas Mann nicht nur „die erste Frau Deutschlands“, sondern Europas, sah in Eisners Regentschaft hingegen ein Missverständnis. „Sie verstanden Eisner nicht, so wenig wie er sie verstand. Wie sollten sie auch? Es war kein Tröpfchen und Körnchen königlich-bayrischer Gemütlichkeit, Roheit, Schlamperei und Gutmütigkeit in ihm; er war ein abstrakter Moralist.“ Und dennoch: Durch seinen Tod wird Eisner zum Symbol der Bayerischen Revolution.
Nach Eisners Tod verschärfen sich die Auseinandersetzungen um die Frage Parlamentarismus oder Räterepublik. Unter Führung von Ernst Niekisch konstituiert sich zunächst ein provisorisch regierender Zentralrat der bayerischen Republik, am 17. März 1919 erfolgt die Wahl seines SPD-Genossen Johannes Hoffmann, zuvor Kultusminister in Eisners Kabinett, zum Ministerpräsidenten. Schließlich rufen der Zentralrat und der Revolutionäre Arbeiterrat am 7. April die Räterepublik aus. Ernst Toller, der während des Ersten Weltkrieges seine ersten Gedichte geschrieben hatte und in der Nachfolge Eisners Vorsitzender der USPD geworden war, wurde Regierungschef. An seiner Seite die aus der Schwabinger Bohème kommenden Literaten Erich Mühsam und Gustav Landauer. Letzterer liefert die Definition für das, was nun kommen soll: „Unter Räterepublik ist nichts anderes zu verstehen, als daß das, was im Geiste lebt und nach Verwirklichung drängt, nach irgendwelcher Möglichkeit durchgeführt wird.“
„Toller warnt, Toller lobt, Toller leidet mit, Toller euphorisiert“ – besser als Weidermann kann man Tollers Bemühungen nicht zusammenfassen. Doch nichts geht von allein und niemand ist ihm dankbar. Die neue Regierung wird von rechts und links bekämpft. Offenbar, so scheint es Toller, ist die Räterepublik ein Fehler … – Ende April 1919 ist alles vorbei. Regierungs- und Freikorpstruppen haben München eingekesselt. Die Kämpfe sind grausam. Bereits am 13. April nimmt man Mühsam fest, am 1. Mai wird Landauer gefangen genommen und tags darauf im Gefängnis Stadelheim erschossen. Toller kann fliehen, er versteckt sich in München. Auf seine Ergreifung sind 10.000 Mark Belohnung ausgesetzt. Als ihm der Prozess gemacht wird, treten Thomas Mann und Max Weber als Bürgen für ihn auf. Das Urteil lautet: fünf Jahre Festungshaft. Im Juli 1924 wird er entlassen. Bereits ein Vierteljahr zuvor hat man Eisners Mörder, den ursprünglich zum Tode verurteilten Graf Arco, wieder auf freien Fuß gesetzt.
Was blieb am Ende der 175 Tage? „Für eine Revolution in Deutschland, eine Revolution des Volkes, nicht der Eliten“, so Höller, immerhin „eine ungewöhnlich lange Zeit“. Die amtliche Statistik der Münchner Polizeidirektion verzeichnet 557 Tote, anderslautende Schätzungen gaben die Zahl mit über 1.000 an. In den Wochen nach der Niederlage werden mehr als 2.000 Unterstützer zum Tode oder zu Haftstrafen verurteilt. Der über München verhängte Kriegszustand dauert bis zum 1. Dezember 1919.
Am Ende seines Buches resümiert Weidermann: „Sie waren die Ersten. Sie waren wirklich auf all das nicht vorbereitet nach neunhundert Jahren Wittelsbacher Regentschaft, nach der Niederlage in einem unverlierbaren Krieg. Es gab keine historischen Erfahrungen, auf die sie zurückgreifen konnten. Direkte, permanente Demokratie, Mitsprache von allen bei allem. Herrschaft der Fantasie und der Fiktionen. Sie wollten das Beste und haben Grauenvolles erreicht.“ Und Höller wirft abschließend noch einen Blick auf das, was danach kam. Wie erging es Graf, Klemperer, Rilke, Kolb, Feuchtwanger, Mühsam, Toller und all den anderen…
Ralf Höller: Das Wintermärchen. Schriftsteller erzählen die bayerische Revolution und die Münchner Räterepublik 1918/1919, Edition Tiamat, Berlin 2017, 288 Seiten, 20,00 Euro.
Volker Weidermann: Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 288 Seiten, 22,00 Euro.
Schlagwörter: Ernst Toller, Gustav Landauer, Kurt Eisner, Mathias Iven, Münchner Räterepublik, Ralf Höller, Revolution, Volker Weidermann