20. Jahrgang | Nummer 25 | 4. Dezember 2017

Baizuo

von Erhard Crome

Nachdem die Schwampel-Verhandlungen – von „Schwarze Ampel“; das beschönigende „Jamaika“ geht mir gegen den Strich – gescheitert sind, breitet sich eine gewisse Ratlosigkeit aus. Dass den wohlsortierten Deutschen so etwas passieren kann! Wir haben doch so viel aus der Geschichte gelernt! So etwas gibt es sonst nur in Süd- oder Westländern, wo ohnehin der welsche Hallodri zu Hause ist! Die beteiligten Parteien erklärten unisono, dass die jeweils anderen schuld sind, während sie selbst nur das Große und Ganze im Blick hatten.
Besonders die Grünen hatten nur das Wohl des Landes, Europas, ja der Welt im Sinn, sagten sie. Die wollten sie retten in diesen Verhandlungen. Allerdings hatten lediglich 8,9 Prozent der Wähler am 24. September 2017 die Grünen gewählt, das heißt, um eine derzeit wohlfeile Argumentationsfigur aufzunehmen, 91,1 Prozent nicht. Aber gestützt auf diese knapp neun Prozent bestanden sie in den Schwampel-Runden auf ihren grünen Forderungen. Die Christdemokraten sehen das Gemeinwohl besonders dadurch verwirklicht, dass sie regieren und niemand sonst; außerdem brauchen wir – „als modernes Industrieland“ – weiter die Kohleverstromung und den Verbrennungsmotor. Die bayerische CSU wollte darüber hinaus die Obergrenze für Zuwanderung. Als Kompromiss war sie bereit, auf diese Bezeichnung zu verzichten. Die FDP dagegen wollte unbedingt den Soli abschaffen und die Bevölkerung digitalisieren. Am Ende jedoch, wenn man genauer auf Wortwahl und Körpersprache der Hauptakteure vor den Kameras achtete, war es die Ménage à trois, die die Liberalen verschreckte: Es ging bei den Mühen um die Ebenen der Sondierung stets um Kompromisse zwischen den Schwarzen und den Grünen, von denen erwartet wurde, dass die Gelben ihnen zustimmen. Ansonsten wurden sie abwechselnd mit deren Programmforderungen konfrontiert. Und wie in jeder privaten Ménage à trois verliert eines Tages einer die Nerven und steigt aus. Hier schon nach wenigen Wochen die FDP.
Das hätte die Kanzlerin wohl durch eine kluge, ergebnisorientierte Verhandlungsführung vermeiden können. Wie man hörte, hatte sie aber wieder alles laufen lassen, in der Erwartung, dass sich die CSU, die Grünen und die FDP aneinander abarbeiten, und am Ende, in der letzten Nacht, sie mit den anderen Parteivorsitzenden alles eintütet. Jetzt ist nichts erreicht. Die SPD-Führung, die noch am Wahlabend schmollend erklärt hatte, dass sie nicht wieder in die GroKo will, wird nun gefordert. Bundespräsident Steinmeier hat gesagt, dass die Parteien sich mit der Teilnahme an der Wahl um Übernahme von Verantwortung beworben haben. Davor könnten sie sich jetzt nicht drücken. Nach Grundgesetz schlägt der Bundespräsident dem Bundestag den Kanzler zur Wahl vor. Das hat jahrzehntelang funktioniert, weil sich zunächst die Parteien der jeweiligen Koalition einigen konnten. Da war der Vorschlag des Präsidenten Formsache.
Jetzt gibt es keine Einigung. Und keinen Vorschlag des Bundespräsidenten. Und ohne einen solchen keine Abstimmung im Bundestag. Und ohne dreimaliges Scheitern einer vorgeschlagenen Kanzlerin keine Auflösung des Bundestages, folglich keine Neuwahl. Nach den Umfragen würde die Abstimmung ohnehin dasselbe Ergebnis bringen, von ein oder zwei Prozent Änderung für diese oder jene Partei mal abgesehen. Unter Linken wird gerade wieder einmal von Rot-Rot-Grün geträumt, und was man da so alles Schönes machen könne. Dabei haben die bürgerlichen CDU/CSU, FDP und AfD zusammen eine klare Mehrheit von 56,2 Prozent, unter Hinzuziehung der Grünen 65,1 Prozent. Die beiden roten Parteien zusammen 29,7 Prozent (KPD und SPD hatten bei der Reichstagswahl am 6. November 1932 37,3 Prozent); rechnet man die Grünen kontrafaktisch hinzu, wären es 38,6 Prozent. Es steht nicht zu erwarten, dass die Wähler bei Neuwahlen linker würden als am 24. September.
Das Gerede über Neuwahlen geschah stets über den Kopf des Bundespräsidenten hinweg. Hans-Ulrich Jörges vom Stern hatte in einer der unzähligen, immer gleichen Talk-Shows gesagt, er sei für Neuwahlen, weil dann die Bürger wüssten, sie dürften nicht AfD wählen, wenn sie eine funktionsfähige Regierung haben wollen. Aber ist die Offensichtlichkeit für „den kleinen Mann“ nicht vielmehr die, dass alle anderen Parteien, wie eine Neuwahl zeigte, nichts zustande bringen, und deshalb erst recht die „Alternative“ gewählt werden muss? Insofern ist Steinmeiers Neuwahlen-Vermeidungs-Strategie der Lage im Lande eher angemessen.
Die Christdemokraten machen weiter dicke Backen, obwohl sie bei der Bundestagswahl 8,6 Prozent ihrer Wähler von 2013 verloren haben, der SPD kamen „nur“ 5,2 Prozent abhanden. Die Annäherung der Verlierer erfolgt jetzt im Schneckentempo. SPD-Kader meinen, wenn sie schon ihr Schmoll-Nein aufkündigen sollen, müsse das Programm einer künftigen GroKo stark sozialdemokratisch sein. Außerdem seien ja noch Punkte offen, die im Koalitionsvertrag von 2013 standen und wegen der Obstruktion der CDU/CSU-Fraktion nicht umgesetzt wurden. Dagegen erklärten führende Christdemokraten, die Sozen sollten nicht so große Forderungen stellen, immerhin hätten sie – die Christlichen – den Regierungsauftrag. Just an dem Tage, an dem Merkel verkündete, man müsse jetzt miteinander reden, und SPD-Schulz schwurbelte, man könne sich der Verantwortung nicht entziehen sollen, stimmte der christdemokratische Landwirtschaftsminister der Provisorischen Regierung in Brüssel für den fortgesetzten Einsatz des Pflanzengiftes Glyphosat, obwohl die sozialdemokratische Umweltministerin ihm vorher dezidiert mitgeteilt hatte, sie ist dagegen. So viel vorausschauende Vertrauensbildung war nie!
Der historisch informierte Politikwissenschaftler Georg Fülberth beantwortete kürzlich die Frage, ob die Minderheitskabinette „eine Ursache für den Verfall der Weimarer Republik“ gewesen seien, mit „Nein“. Umgekehrt seien die Kombinationen auf der parlamentarischen Ebene Ergebnis der politischen Situation im Lande gewesen. Deshalb verböten sich Vergleiche mit der Lage nach der Bundestagswahl 2017. Hier irrt der Mann. Auch hier und heute ist die regierungs-konstellare Situation Ausdruck der Lage im Lande. Nicht umgekehrt.
Deutsche Medien berichteten Ende November, in China würde Merkel nach dem Scheitern der Schwampel-Verhandlungen als „Baizuo“ bezeichnet. Das meint „naive, gebildete“, besser „unbedarfte, arrogante Westler, die den Rest der Welt bemitleiden und sich für die Retter halten“, kurzum „Gutmenschen“, die Multikulti und den Einzug „rückständiger islamischer Werte“ erlauben. Die bürgerlichen deutschen Medien bezogen sich dabei auf das China-Institut der deutschen Mercator-Stiftung „Merics“. Nun ist dieses Institut nicht irgendeines. Es hat dreißig festangestellte China-Experten und liefert der deutschen Wirtschaft und Politik „praxisorientierte Informationen“ über das Land, um „die Weltmacht China besser zu verstehen“ und die hiesige Entscheidungsfindung zu unterstützen. Andere China-Institute beneiden es, finanziell ist es offenbar gut ausgestattet. Die Stiftung Mercator wurde 1996 von der Familie Schmidt gegründet, die neben den Familien Haniel und Beisheim zu den Hauptanteilseignern des Handelsunternehmens Metro Group gehört.
Interessant ist, wer alles zum Kuratorium des Merics gehört. Darunter sind Eberhard Sandschneider, Professor für Politik Chinas an der Freien Universität Berlin, der von 2003 bis 2016 Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik war, die Geschäftsführerin der Robert-Bosch-Stiftung, der Vorsitzende des Vorstands der BMW Stiftung Herbert Quandt, der Geschäftsführer der Mercator-Stiftung, der Generalbevollmächtigte von BASF China sowie Dr. Thomas Bagger, Leiter Außenpolitik im Bundespräsidialamt und zuvor Chef des Planungsstabes des Auswärtigen Amts, ferner Caio Koch-Weser, früher bei der Weltbank, 1999 bis 2005 Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und zuständig für internationale Finanzpolitik, europäische Wirtschafts- und Finanzfragen, zudem Vorsitzender des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) und 2006 bis 2016 im erweiterten Vorstand der Deutschen Bank, hier weltweit zuständig für Strategie und Beratung von Regierungs- und Regulierungsbehörden sowie Unternehmen.
Merics ist eine Einrichtung, mit der sich das deutsche Kapital auf den Gezeitenwechsel in der globalisierten Weltwirtschaft von der nordatlantischen Welt unter Führung der USA hin zur pazifischen Welt mit China im Zentrum einzustellen versucht. Da das deutsche Kapital nach 1945 ohnehin in einer Junior-Partner-Position ist, sollte es am Ende gleich sein, ob man Junior der Amerikaner oder der Chinesen ist. Demokratierednerisch mag es ein Unterschied sein, kapitalrenditemäßig nicht. Unter diesem Gesichtspunkt braucht dieses Deutschland rasch eine starke und stabile Regierung. Schon um mit den Chinesen wieder auf einem angemessenen Niveau reden zu können. Deshalb hat dieses China-Institut die Baizuo-Charakterisierung in die deutschen Medien lanciert. Der Berliner Politik-Betrieb soll auf Trab gebracht werden.