20. Jahrgang | Nummer 23 | 6. November 2017

Wo ist mein großer Löffel?

von Frank-Rainer Schurich

Die im Osten Sozialisierten kennen fast alle den sowjetischen Märchenfilm „Die drei Holzfäller“. Die Blase, schläfrig und faul, möchte zwar süßen Brei essen, aber seine Gefährten Strohhalm und Bastschuh nicht bei der fürs Kochen notwendigen Holzsuche unterstützen. Er musste bei dieser Arbeit sogar geweckt werden: „Freund Blase, es gibt süßen Brei!“ Sofort war er wach: „Es gibt süßen Brei? Wo ist mein großer Löffel?“ So wanderte die nicht sehr schmeichelhafte Bezeichnung „Freund Blase“ in den aktiven Ost-Wortschatz für einen Menschen, der seine Aufgaben gar nicht oder nur halb erledigt. Und die Frage „Wo ist mein großer Löffel?“ wurde zu einem geflügelten Wort.
In alten Zeiten bedienten sich die Hausangestellten oft am Besteck ihrer Herrschaften, was sozusagen ein „Standardvergehen“ war. Löffel waren wohl ein besonders beliebtes Diebesgut, wodurch die Redewendung „silberne Löffel stehlen“ in der Bedeutung „sich einer Sache schuldig machen“ entstand.
Das Wohnhaus Brüderstraße 10 in Berlin-Mitte ist wohl um 1688 für die Familie des preußischen Staatsministers und Kammerrats Freiherr Frantz Wilhelm von Happe (1687–1760) gebaut worden, der es später verkaufte. Im Hause des Ministers von Happe, so eine Berliner Sage, wurde ein silberner Löffel vermisst. Ein junges Dienstmädchen, zu dessen Pflichten es gehörte, den Tisch zu decken und Besteck und Geschirr abzuwaschen, kam in den Verdacht, ihn gestohlen zu haben. Da niemand sonst mit dem Besteck zu tun gehabt hatte und der Löffel, auf den der Minister großen Wert legte, sich nicht wieder anfand, wurde das Mädchen des Diebstahls beschuldigt und zum Tode durch Erhängen verurteilt. Der Minister bat noch, man möge den Galgen zur Abschreckung vor seinem Hause errichten, damit nicht noch andere Bedienstete auf die Idee kämen zu stehlen. Und so geschah es. Obwohl das arme Mädchen seine Unschuld beschwor, wurde es gehängt.
Kurze Zeit nach der Urteilsvollstreckung fand man den Löffel im Stall. Eine Elster mochte ihn dorthin verschleppt haben.
Seitdem hieß dieses Haus „Galgenhaus“, zumal dort auch wirklich Todesstrafen durch Erhängen vollstreckt wurden. Überliefert ist, dass vor dem Haus des Staatsministers von Happe am 22. Dezember 1735 ein Galgen gestanden hatte, aber gehängt wurde kein armes Küchenmädchen, sondern ein Lakai, der seinem Herrn die nicht unbeträchtliche Summe von 2000 Talern gestohlen hatte.
Kriminalität gibt es sowohl in öffentlichen als auch in privaten Haushalten. Wird in privaten Haushalten eine Missetat festgestellt, kann man im äußersten Fall eine Strafanzeige erstatten. Dann ist der Staat verpflichtet, die Sache von Amts wegen zu verfolgen. Man kann die Angelegenheit aber auch auf sich beruhen lassen. In diesem Falle spricht man von Latenz. Es ist jedoch nicht verboten, auf eigene Faust zu ermitteln und die Wahrheit festzustellen, wie die folgenden Fälle beweisen.
Matthias Abele, der 1654 und 1658 über „Seltzame Gerichtshändel“ schrieb, erzählte den Fall eines listigen Philosophen, dem ein Diener einen silbernen Becher gestohlen hatte. Weil keiner den Diebstahl zugab, machte sich der „Philosophus“ den Wunderglauben seiner Zeit zunutze. Er wies an, einen Kessel mit Ruß in den Keller zu tragen und dort vorsichtig umzukehren. Seinen Untergebenen aber befahl er, die Hände unter den Kessel zu stecken: Wessen Hand weiß und ohne Makel bliebe, der sei unschuldig. Er verbot ihnen dahingegen strikt, sich die Hände selbst anzusehen oder sie anderen zu zeigen. Die nun unschuldig waren, erzählt der Chronist, „die thäten mit unerschrockenem Gemüth ihre Hände in den rusigen Kessel hinein stekken“. Der Missetäter aber täuschte das nur vor, in der Hoffnung, sich so aus der Affäre ziehen zu können. Weit gefehlt: Alle anderen hatten mit Ruß befleckte Hände. Der findige Philosoph nutzte die Situation aus und ließ ein Donnerwetter über die Weißhand niedergehen, die ihre Untat nun bekennen musste.
Wie sich die Bilder gleichen! Im Jahre 1914 wird in der kriminalistischen Literatur ein ähnlicher Vernehmungstrick propagiert: Einem Landmann im Pommerschen wurden einige silberne Löffel gestohlen. Er rief seine sämtlichen Angestellten zu sich, ließ sie um einen großen Tisch herum Aufstellung nehmen und befahl ihnen, den Kopf unter den Tisch zu stecken. Dann fragte er: „Haben alle den Kopf unter den Tisch gesteckt?“ – „Ja“, war die eifrig-einstimmige Antwort. „Der Dieb auch?“ – „Ja“, antwortete eine vereinzelte Stimme.
In der Kriminalistik nennt man das eine Fangfrage. Ihre Anwendung ist und war umstritten. Ein Begründer der modernen Kriminalistik Ludwig Hugo Franz von Jagemann (1805–1853) lehnte verfängliche (captiöse) Fragen ab; Hans Schneickert hatte sich dagegen in seinem Buch „Verheimlichte Tatbestände und ihre Erforschung“ (1924) für ihren uneingeschränkten Gebrauch ausgesprochen: „Es ist nicht zu leugnen, dass es auch eine Ermittlungstaktik, namentlich in der Polizeipraxis gibt, die auf List (Überführungstricks) aufgebaut ist …“
Nehmen wir mal an, dass er Recht hat. Wenn dem so ist, warum sollten da nicht auch die glücklos arbeitenden parlamentarischen Untersuchungsausschüsse Fangfragen stellen dürfen. Oder unabhängige Kommissionen überprüften mit dieser Methodik den Wahrheitsgehalt von Politikeraussagen. Man stelle sich also vor: Bedeutende Frauen und Männer dieses Landes haben den Kopf unter den Tisch gesteckt, und eine vorurteilsfreie Person (etwa ein Verfassungsrichter) fragt: „Haben alle ein Wahlversprechen abgegeben?“ – „Ja“, tönt es einstimmig. „Die Lügner auch?“
Die Antworten kann man sich denken.