20. Jahrgang | Nummer 24 | 20. November 2017

Ochlokratie

von Waldemar Landsberger

Seit einigen Wochen geistert ein Gedicht durch die Zeitungen. Ein Gedicht über die Bewunderung von Alleen, Blumen und vor allem von Frauen. Es prangt an der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin-Hellersdorf. Dort werden Sozialarbeiter, Kindheitspädagogen, Pflegemanager, Physiotherapeuten und ähnliche Berufe ausgebildet. Das Gedicht stammt von Eugen Gomringer, der inzwischen 92 Jahre alt ist, eine bolivianische Mutter und einen schweizerischen Vater hat und als Begründer einer Dichtkunst gilt, die „Konkrete Poesie“ genannt wird. Er erhielt 2011 den „Alice-Salomon-Poetik-Preis“. Aus diesem Anlass wurde sein Gedicht avenidas an der Fassade der Hochschule angebracht.
Später meinte der Allgemeine Studierendenausschuss (AstA), Frauen fühlten sich an der U-Bahn-Station und dem Platz vor der Hochschule oft unwohl, die Gegend sei zu später Stunde männlich dominiert. Deshalb äußerte er Kritik an der Wandgestaltung mit dem Gedichttext. Er setze Frauen herab. Mein Einwurf ist: Wenn dichterische Lobpreisung der Frau diskriminierend wäre, müsste man den größten Teil der Weltliteratur verwerfen. Christoph Hein, Ehrenpräsident des deutschen PEN-Zentrums, des internationalen Zusammenschlusses von über 150 Schriftstellerorganisationen, die für die Freiheit des Wortes eintreten, sprach denn auch von einem Maulkorb für die Kunst, Zensur und Bilderstürmerei. An die Adresse der Hochschule gewandt sagte er, sie „hat den Studierenden etwas von Erziehung und Bildung zu vermitteln und nicht deren unerzogene Unbildung zu respektieren“. Das Parlament der Hochschule behandelte den Antrag jedoch und beschloss mit knapper Mehrheit einen Ideenwettbewerb zur Neugestaltung der Fassade.
Der AstA, in nicht nachlassendem Eifer, diktierte der Hochschule gleich seine Kriterien: „Das eingereichte Werk darf in keiner Hinsicht diskriminierend sein. Sexistische, rassistische, ableistische, lookistische, klassistische, ageistische und sonstige diskriminierende Bezüge werden nicht akzeptiert.“ Damit beansprucht der Studierendenausschuss für sich das Letztentscheidungsrecht. Zugleich sind in dem einen Satz sämtliche Diskriminierungen zusammengezählt, die derzeit so bekämpft werden sollen. Was „sexistisch“ wohl meint, vermutet der informierte Zeitungsleser in aller Regel richtig. Bei „rassistisch“ ist es ähnlich. Nur gehen die Meinungen oft weit auseinander, was denn nun tatsächlich darunter zu verstehen ist. „Islamfeindlich“ gilt im politisch korrekten Sprachgebrauch von heute als Variante von „Rassismus“; doch selbst unter Herbeiziehung der abstrusesten Rassetheorien des 19. und 20. Jahrhunderts lässt sich eine „islamische Rasse“ nicht finden. Der Islam gilt gemeinhin als Religion.
Die anderen Adjektive gehören nicht mehr zum Sprachgebrauch des durchschnittlichen Zeitungslesers. Da muss der schon nachschlagen. Also: „ableistisch“ meint Feindlichkeit gegenüber Behinderten, „lookistisch“ sieht die Schönen gegenüber den Hässlichen bevorzugt. Lässt sich das lösen, wenn stets die Hässlichen bevorzugt werden? Eher nicht. Deshalb wird politisch korrekt behauptet, es gäbe keine Schönheit. Nur kann dann „Lookismus“ kein Kriterium sein. Sei’s drum. „Klassistisch“ meint Bevorzugung oder Diskriminierung nach sozialer Herkunft. Das lässt sich, etwas marxistische oder sozialkritische Grundbildung vorausgesetzt, rasch nachvollziehen. „Ageistisch“ ist von age abgeleitet, dem französischen oder englischen Wort für Alter.
Indem Eugen Gomringer kriminalisiert wird, agieren die AstA-Eiferer selbst ageistisch – sie ziehen über einen alten Mann von 92 Jahren her – und rassistisch – sie diskriminieren jemanden, der aus Bolivien stammt. Genau betrachtet gehen die neuen Tugendwächter der Alice-Salomon-Schule weiter, als die Katholiken mit ihrer Inquisition gingen: Dort gibt es „Sieben Todsünden“, die alle konkret benannt sind. Hier lautet die siebente dagegen: „sonstige diskriminierende Bezüge“. Das heißt, in diese Kategorie können sie alles reinpacken, was ihnen sonst noch so einfällt: Diskriminierung von Fußgängern oder Radfahrern, von Veganern oder Fleischessern, je nach Geschmack, von Hunde- oder Katzenliebhabern, von Internetaffinen und Internetmuffeln und so weiter.
Der Autor Jürgen Amendt schrieb in der Zeitung Neues Deutschland zu diesem Streit unter der Überschrift „Allee der Scheindisputanten“, dass in der Debatte um das Gomringer-Gedicht über Erscheinungsformen gestritten wird, nicht über die Sache, nämlich in welchem Maße in Hellersdorf eine konkrete Bedrohung von Frauen bestehe, dann wäre es eine Polizeifrage. „In den 1980er Jahren haben Feministinnen die Einrichtung von Frauenparkplätzen in den Parkhäusern durchgesetzt und nicht etwa das Übertünchen von Gedichten!“ Die Berliner Zeitung sieht in dieser Kontroverse eher übergreifende Probleme. Zum einen sprechen sich als links verstehende Studenten Professoren und anderen, die sie als „rechts“, „konservativ“, „islamkritisch“ oder ähnlich einordnen, das Recht auf freie Meinungsäußerung ab, das sie für sich selbst stets lauthals einfordern. Der Kritisierte wird stigmatisiert, statt sich mit ihm argumentativ auseinanderzusetzen. Damit verliert die Universität ihren Charakter als Ort der offenen, freien Debatte.
Zum anderen greift auch in Deutschland eine Mode um sich, die aus den USA kommt, die „Micro Aggressions“ genannt wird. Das meint kleine Handlungen oder Worte, die als verletzend wahrgenommen werden. Als solche gelten bereits Murren und Raunen in einer Diskussion, Stirnrunzeln oder Kopfschütteln. Entscheidend ist: Was verletzend oder bedrohlich ist, bestimmt der Betroffene. Damit wird der öffentliche Raum – ein solcher ist per definitionem auch die Universität – mit starren Regeln besetzt, die dem intellektuellen Klima schaden. Konservative Kritiker dieser Lage in den USA sehen hier ein Syndrom, das die „verweichlichten Millenials“ befallen hat: bei ihnen dreht sich alles um die eigene Verletzlichkeit.
Es geht aber um mehr. Der AstA der Alice-Salomon-Schule steht für den Anspruch, nur ausgestattet mit dem eigenen Moralanspruch Entscheidungen zu bestimmen, die dem Grunde nach in der Öffentlichkeit zu treffen sind. Das gilt auch für die vielen „zivilgesellschaftlichen“ Initiativen, die sich nur bilden, um Flughäfen, Bahnhöfe, Stromtrassen oder Flüchtlingsheime zu verhindern. Am Anfang steht immer die moralisierende Selbstermächtigung. Bei den alten Griechen gab es im Verständnis der Staatsformenlehre jeweils eine positive Form und eine Verfallsform. Die der Demokratie wurde am Ende „Ochlokratie“ genannt, kurz übersetzt mit: „Pöbelherrschaft“.
In den USA folgte auf die Dominanz des linken, politisch korrekten „Pöbels“ an den Universitäten die des rechten in der Gesellschaft – in Gestalt der Wählerschaft von Donald Trump. Deshalb sollten hierzulande die Vernünftigen, denen der Sieg der Vernunft am Herzen liegt, beizeiten gegen Übergriffe, wie die gegen das Gomringer-Gedicht, offen auftreten und nicht vor dem Druck der „politischen Korrektheit“ kuschen. Wenn die Vernünftigen es nicht schaffen, kommt der rechte Pöbel.