von Renate Hoffmann
Weil ich den Blick nach oben hielt, um in Lorch an der Rems Straßennamen und Gedenktafeln zu entziffern, hätte ich ihn beinahe vor seiner ehemaligen Wohnung Hauptstraße Nr. 24 hinterrücks umgestoßen. Den Erzähler, Lyriker, Übersetzer und evangelischen Pfarrer Eduard Mörike (1804–1875). Dass es nicht geschah, lag an seiner bronzenen Beschaffenheit. Unter dem Zylinder blickt ein wohlwollendes Gesicht, bartumrahmt, rechtschaffen, nachdenklich. Eine schmückende breite Schleife ist um den Hals geschlungen. Der achtbare Herr trägt den Überrock offen und schultert wacker einen Regenschirm. Seine Beine umschmeichelt eine Katze (Maria Koss schuf die Skulptur).
Der Unstete nahm im Jahr 1867 Wohnung in Lorch, Erholung suchend, von der gerühmten Landschaft gelockt und auf ausgeglichene Tage hoffend: „Ich lebe hier […] fast nur vom Genuß der Gegend, insonderheit der Luft. […] Wir haben hier vollkommen, was wir brauchen […] Ruhe und Stille.“
Vom Liebreiz des Remstales angetan, blieb er mit der Familie zwei Jahre in der Stadt. Aber nicht im selben Haus. Von äußeren Umständen und der inneren Unruhe getrieben, wechselte er am Ort dreimal den Wohnsitz, kaum dass dieser mit vertrauten Gegenständen aus dem Stuttgarter Heim etwas freundlicher ausgestaltet war. Nun steht der Dichter, wanderbereit, vor dem Haus Nr. 24, in dem er das Obergeschoss bewohnte.
Er schätzte es, unterwegs zu sein, der Natur nahe und der Gesellschaft entflohen. „Am Waldsaum kann ich lange Nachmittage, / Dem Kuckuck horchend, in dem Grase liegen; / Er scheint das Tal gemächlich einzuwiegen / Im friedvollen Gleichklang seiner Klage. / Da ist mir wohl, und meine schlimmste Plage, / Den Fratzen der Gesellschaft mich zu fügen, / Hier wird sie mich doch endlich nicht bekriegen, / Wo ich auf eigne Weise mich behage.“
Derjenige, der diese klingenden Verse schrieb, haderte mit seinem „Brotberuf“ als Pfarrer. Es drängte ihn, freier Literat zu sein, er wagte es jedoch nicht, sich vom geistlichen Amt zu lösen. Unter der seelischen Belastung litt seine Gesundheit. Auch dieserhalb reiste er nach Lorch. Man hatte ihm inzwischen die Pensionierung gewährt. Was bereits hinter ihm lag, war eine Fülle von Gedichten, die, ob ihrer Musikalität, nach Vertonung drängten. Neben anderen griff Hugo Wolf (1860–1903) sie auf und setzte die geheimnisvolle Poesie, die Stille und den Jubel in Töne. „Frühling läßt sein blaues Band / Wieder flattern durch die Lüfte; / Süße, wohlbekannte Düfte / Streifen ahnungsvoll das Land …“
Mörike verehrte Mozart. Zum hundertsten Geburtstag des Komponisten schrieb der Dichter die schwebeleichte, heitere Novelle mit dem düsteren Ausklang „Mozart auf der Reise nach Prag“ (Cottascher Verlag Stuttgart 1856). – Erzählt wird ein Tag mit ungewöhnlichen Ereignissen des Ehepaares Mozart aus dem Jahre 1787, als man zur Uraufführung des Don Giovanni in die Stadt an der Moldau fuhr. Handlung und Personen – außer Wolfgang und Constanze – sind Erfindungen Mörikes. – Klärende und erwiesene Information ist eine Mitteilung in der Prager Oberpostamtszeitung vom 6. Oktober 1787: „Unser berühmter Herr Mozart ist wieder in Prag angekommen, und seit dem hat man hier die Nachricht, daß seine von ihm neu verfaßte Oper das Steinerne Gastmahl auf dem hiesigen Nationaltheater zum erstenmal gegeben wird.“ Aufführung am 29. Oktober des Jahres. – Als Begleitmusik beim Lesen des beschwingten Textes eignet sich die Mozartsche Serenade in G-Dur „Eine kleine Nachtmusik“ vortrefflich.
In Lorch gibt Mörike einer anderen Neigung nach. Wenn er nicht wandert und nicht schreibt, dann findet er sich in der Werkstatt des Hafner (Töpfer)-Meisters Johann Georg Groß ein und gestaltet Ton statt Lyrik. Er dreht und formt Töpfe, Becher, Schalen und kann dabei doch nicht aufs Dichten verzichten. Er versieht seine Arbeiten vor dem Brennen gelegentlich mit kleinen Inschriften und verschenkt die meisten seiner „Tonwerke“: „So alt ich bin, so bin ich doch / Der Kunst noch nicht gar abgestorben, / Was ich als Dichter nicht erworben, / Verdien ich mir als Hafner noch.“ Zuweilen versetzte er die Freunde vollends in Verwirrung, wenn er die Töpfe signierte mit: „E. Mörike und Frau, Hafner in Lorch.“ Bleibt er nun Poet oder wechselt er das Handwerk?
Eine Bronzekatze umstreicht den Bronze-Mörike. Sie ist ein Kater, entstammt der hauseigenen Menagerie und hört angeblich auf drei Namen: Weißling, Rockebuß und Waihugebei (ob Weißling auf diesen Anruf reagierte, ist zu bezweifeln). An Katzen fehlte es nicht im Hause Mörike. Sie hießen Fulvia und Sauberschwarz. Dazu kamen in ihrem und Eduards Leben: Ein Star, ein „artiger Spitz, ein gescheidtes, wachsames lebhaftes Geschöpf“, Joli geheißen. Auch er erhielt weitere Rufnamen: David und Nikodemus. Außerdem – Distelfink, Kanarienvogel, eine Schildkröte und, nach Jolis irdischem Abgang, der weiße Pudel, namens Prudent. Die Zwei- und Vierbeiner nahmen regen Anteil am Familienleben (und die Familie an ihnen). Sie wurden gehätschelt, bedichtet, verwöhnt und fanden Eingang in des Dichters Briefwechsel. Eduard an seine Schwester Klara: „… auch einen herzlichen Gruß von mir, David und Fulvien. Die letztere ist in kurzer Zeit durch übermäßigen Fraß so stark und groß wie ein Lamm geworden. […] Sie verwildert ganz durch ihr Vagieren, und wird, ihrer bäurischen Sitten wegen, von David tief verachtet…“
Weißling und Joli bleiben Mörikes Lieblinge. Sie folgen ihrem rastlosen Herrn auf Bahnfahrten und Umzügen. – Weißling wird beim Verreisen, etwas verschreckt, in einen Henkelkorb mit Deckel (Gretten) gesteckt und erhält zum Trost einige Verszeilen: „ O Rockebuß, jetzt mußt du dran! / Du fährst mit Sturmeseilen / Im Gretten auf der Eisenbahn / Vier lange, bange Meilen …“
Und für Joli stimmt der Dichter eine wahrhaft himmlische Hymne an: „Die ganze Welt ist in dich verliebt / Und läßt dir keine Ruh, / Und wenn’s im Himmel Hundle gibt, / So sind sie grad wie du!“
Tiere, Töpfe, Texte und Träume. Feiner Humor und Gedichte von unnennbarer Zartheit, geschöpft aus dem Reichtum der Sprache. Vom Überschwang bis hin zu schmerzhafter Wehmut. Getragen von der Sehnsucht nach dem Traumland Orplid, das aller Ängste der Welt enthebt. – Eduard Mörike mit Katze in Bronze auf der Hauptstraße Nr. 24 in Lorch gibt manches zu bedenken auf. Auch dieses: „Ist denn die Kunst etwas anderes als ein Versuch, das zu ersetzen, was uns die Wirklichkeit versagte?“
Schlagwörter: Eduard Mörike, Lorch, Lyrik, Renate Hoffmann, Tierliebe