von Lutz Unterseher
Friedrich Engels war von den Vereinigten Staaten fasziniert: von der schieren Größe des Landes und seinem Entwicklungstempo. Aufmerksam verfolgte er das Geschehen im amerikanischen Bürgerkrieg, den er in einem Artikel in der Wiener Zeitung Die Presse vom 26. März 1862 als „ein Schauspiel ohne Parallele in den Annalen der Kriegsgeschichte“ bezeichnete. „[…] die ungeheure Ausdehnung des streitigen Territoriums; die weitgestreckten Fronten der Operationslinien; die numerische Masse der feindlichen Armeen, die Art ihrer Leitung und die allgemeinen taktischen und strategischen Prinzipien, nach denen der Krieg geführt wird, sind alle neu in den Augen des europäischen Zuschauers.“
Zuschauer? In der Tat fühlte Engels sich gut informiert, befand er sich – als Emigrant in England – doch am anderen Ende des gerade erst gelegten transatlantischen Telegrafenkabels. Freilich saß Engels gelegentlich dennoch gewissen Verzerrungen auf, die der Zeitungsberichterstattung in den Vereinigten Staaten geschuldet waren.
Selbstverständlich schlug sein Herz für die Nordstaaten (die „Union“), erschienen diese doch wegen ihrer Industrialisierung den „Sklavenhalterstaaten“ des Südens (der „Konföderation“), geschichtsphilosophisch gesehen, einige Entwicklungsstufen voraus. Doch Engels, um Objektivität bemüht, konnte und wollte herausragenden militärischen Leistungen des Südens seinen Respekt nicht versagen. So zeigte er sich von der operativen Kunst des bedeutendsten Südstaatengenerals Robert E. Lee sehr beeindruckt. Als Oberbefehlshaber der Hauptmacht der Konföderierten, es waren die Truppen, die zwischen der Unionshauptstadt Washington D. C. und Richmond, der Hauptstadt des Südens, zum Schutze letzterer standen, zeigte dieser wiederholt größtes militärisches Talent (und zwar nicht nur in den Augen unseres europäischen Zuschauers).
Lee verstand es, den Unionstruppen mit zahlenmäßig unterlegenen Kräften, taktisch flexibel und den Vorteil des Verteidigers einstreichend, entscheidenden Landgewinn zu verweigern. Zugleich war es ihm immer noch möglich, aus seiner ohnehin knappen Verfügungsmasse beträchtliche Truppenkontingente gleichsam „auszuschwitzen“, die den Auftrag erhielten, gefährliche Flankenstöße in Unionsgebiet hinein zu unternehmen. Alles in allem kam es zwischen den beiden Hauptstädten zu einer Art blutigem Patt ungleicher Kräfte.
Friedrich Engels widmete sich mit Eifer dem Problem, wie die Nordstaaten diese Situation überwinden könnten. Dabei formulierte er eine kluge Kritik des in der Union zu diesem Zweck zunächst ventilierten Konzepts (so, wie er es sah), ließ es aber dabei nicht bewenden. Er lieferte nämlich eine Ideenskizze dazu, was denn aus seiner Sicht zu tun sei. Dabei spielte – vor dem Hintergrund seiner Beobachtungen – der Kampf um die Verbindungslinien des Südens, sprich: das Eisenbahnnetz, eine Schlüsselrolle.
Wie wir noch sehen werden, waren seine Betrachtungen originell und von beträchtlicher Plausibilität. Plausibler als seine dialektische Prognostik des Umschlagens der etablierten Machtverhältnisse in den schließlichen Sieg der Arbeiterklasse. So drängen sich Fragen auf, die aber nicht unbedingt ernst genommen werden müssen: War Engels als Philosoph eine Fehlbesetzung, und hätte er nicht besser ein echter General werden sollen, statt diesen Rang nur als Spitznamen zu tragen?
Winfield Scott, Oberbefehlshaber des US-Heeres bei Beginn des Bürgerkrieges im April 1861, dann der Unionstruppen, wurde schon Ende 1861 durch den intriganten George McClellan ersetzt (vorher Präsident einer Eisenbahnlinie und 1864 demokratischer Präsidentschaftskandidat gegen Abraham Lincoln). Der glücklos und zögerlich operierende McClellan hielt sich nur kurz in militärischen Spitzenämtern. Ende 1862 war er bereits Oberbefehlshaber und danach Befehlshaber der Potomac-Armee (zum Schutze von Washinton D. C.) gewesen.
Gleichwohl wurde, wie Engels der amerikanischen Presse zu entnehmen meinte, sein Name mit einem strategischen Ansatz identifiziert, der ursprünglich von Winfield Scott stammte und der in der Presse als „Anakonda“-Plan figurierte. Dabei ging es um die Überwindung des Patts durch ein umfassendes Einschnüren der Südstaaten. In seiner realistischen Variante wurde dieser Plan über die Ära McClellan hinaus erfolgreich durchgeführt. Es gelang nämlich den Unionstruppen, von Norden und von Süden her den Mississippi unter Kontrolle zu bringen. Damit waren die westlichen Südstaaten (Arkansas, Louisiana, Texas) von der Konföderation abgetrennt und letztere an ihrer Westflanke abgeriegelt. Die andere Flanke bildete die lange Meeresküste der Südstaaten: am Atlantik und auch am Golf von Mexiko. Hier war eine Seeblockade vorgesehen, die – nachdem diese durch ein energisches Schiffbauprogramm der Union Gestalt angenommen hatte – zunehmend erstickende Wirkung zeitigte.
Friedrich Engels hingegen saß einer eher unrealistischen Variante von „Anakonda“ auf, die er meinte, amerikanischen Blättern entnehmen zu können. Er vermutete nämlich, dass man den Ring um die Südstaaten von allen Seiten immer mehr zuziehen wollte – und zwar durch bewaffnete Vorstöße. Dabei hätten dann auch Seelandungen – vor allem entlang der Atlantikküste – eine wichtige Rolle gespielt: Landungen, die eher probeweise an der nördlichen Küste der Südstaaten bereits unternommen worden waren.
Engels erkannte, dass ein von einer solch weiten „äußeren Linie“ ausgehender Strangulationsversuch erhebliche Kräfte benötigte, deren Aktionen hervorragend koordiniert sein müssten: so gut, dass – falls der auf der „inneren Linie“ kämpfende Gegner sich gegen Teile des Umfassungsringes wandte – durch gegenseitige Unterstützung hinreichende Kräfte zur Abwehr verfügbar wären. Dies aber erscheint als im Krieg prinzipiell problematisches Konzept: Hoher Koordinationsbedarf ist immer ein Einfallstor unerwarteter Störungen.
Engels am 27. März 1862 in der Wiener Presse:
„Die von McClellan beeinflussten amerikanischen Blätter machen viel Wesens mit der Anakonda-Umschlängelungstheorie. Danach soll eine ungeheure Linie von Armeen die Rebellion umschlingen, nach und nach die Glieder zusammenziehen und den Feind schließlich erwürgen. Dies ist rein kindisch.
Es ist eine Aufwärmung des in Österreich um 1770 erfundenen so genannten Kordonsystems, das mit so großem Starrsinn und mit so beständigem Fehlschlag von 1792 bis 1797 gegen die Franzosen angewendet wurde. […] Die Franzosen schnitten die ‚Anakonda‘ entzwei, indem sie an einem Punkt, wo sie überlegene Kräfte konzentriert hatten, losschlugen. Dann wurden die Stücke der ‚Anakonda‘ der Reihe nach zerhackt.“
Die Kritik Engels’ war luzide und plausibel – allerdings am falschen Objekt.
In dem zitierten Presse-Artikel vom 27. März 1862 stellte Friedrich Engels im Übrigen auch die Frage, wie man den Sezessionsstaaten im Süden denn sonst beikommen könne:
„In gut bevölkerten und mehr oder minder zentralisierten Staaten gibt es stets ein Zentrum, mit dessen Besetzung durch den Feind der nationale Widerstand gebrochen würde. Paris ist ein glänzendes Beispiel. Die Sklavenstaaten jedoch besitzen kein solches Zentrum […. Es fragt sich also: Existiert trotzdem ein militärischer Gravitationspunkt, mit dessen Wegnahme das Rückgrat ihres Widerstandes bricht […]?“
Engels hatte die Karte studiert und fand, „dass Georgia der Schlüssel der Sezession ist.“ In der Tat galt Georgia als das eigentliche Herz der Südstaaten und war deren Kornkammer: materielle Basis der Kriegsanstrengungen des Südens. Sein Befund: „ […] in einem Land, wo die Kommunikation, namentlich zwischen entfernten Punkten, viel mehr von den Eisenbahnen als von Landstraßen abhängt, genügt die Wegnahme der Eisenbahnen.“ So wäre „mit dem Verlust Georgias die Konföderation in zwei Stücke geschnitten, die alle Verbindung untereinander verloren hätten.“
Ein „Zerschneiden“ der Konföderation durch die „Wegnahme“ der Eisenbahnen in Georgia. Dies war genau das Konzept, das William Sherman etwas mehr als zwei Jahre nach der Publikation Engels’ mit seinem berühmten „Marsch zum Meer“ realisieren sollte: vom Westen her bis an die Atlantikküste. Es war die Operation, die letztlich zum Ende des konföderierten Widerstandes an der Hauptfront im Norden führte.
Freilich gibt es keinen Hinweis, dass der Unionsgeneral von des deutschen Philosophen Überlegungen Notiz genommen hätte (oder hätte nehmen können). Helle Geister kommen unabhängig voneinander zu ungewöhnlichen Schlüssen.
Teil 1 des Beitrages erschien im Blättchen 23/2017.
Schlagwörter: Bürgerkrieg, Friedrich Engels, Lutz Unterseher, USA