von Detlef Puhl
Dass Frankreichs junger Präsident Emmanuel Macron gut reden kann, dürfte inzwischen aufgefallen sein. Auch, dass er etwas zu sagen hat. Was davon dann politische Realität wird ist die Frage aller Fragen, die sich viele Franzosen stellen. Viele befürchten, dass er tatsächlich umsetzen wird, was er angekündigt hat. Andere, ebenfalls viele, tun seine Worte als politische Rhetorik ab – Politgeschwätz, wie man es gewohnt ist. Mit beiden Reaktionen werden Macron und seine Entourage leben. Sie wissen, dass es Widerstände auch jenseits der parlamentarischen Opposition gibt und weiterhin geben wird. Schließlich stehen sie erst am Anfang einer fünfjährigen Amtszeit, die Macron selbst in seinem kleinen Buch im Wahlkampf „Revolution“ genannt hat.
Aber was kümmert das die Deutschen? Politische Spielchen gehören zum Alltag westlicher Demokratien. Da sollte man sich von außen nicht einmischen. Oder doch? Sollte in diesem Zusammenhang nicht angeraten werden, dass diese Entwicklungen beim westlichen Nachbarn hierzulande nicht auf die leichte Schulter genommen werden? Ein halbes Jahr nach Macrons Amtsantritt darf man nicht vergessen, dass seine Gegenkandidatin im zweiten Wahlgang die extrem rechte Nationalistin Marine Le Pen war, die immerhin ein Drittel der Stimmen auf sich vereinigen konnte – und nicht nur zwölf Prozent wie die AfD. Zu bedenken ist auch, dass nicht mehr viel Zeit bleibt bis 2022, das heißt: bis 2021, wenn der Kampf um die Wiederwahl Macrons beginnt. Und dass Deutschland noch eine Weile brauchen wird, bis die anvisierte, und wohl auch wahrscheinliche „Jamaika-Koalition“, vielleicht ebenfalls eine kleine „Revolution“, handlungsfähig sein wird. 2018 bis 2021 – das sind noch gut drei Jahre, bis die neue Politik Früchte tragen muss. Das ist nicht viel. Zu warten ist keine Option.
Ein handlungsfähiges Deutschland aber braucht Frankreich, dessen Präsident in seinem Wahlkampf nichts weniger angekündigt hat als die „Neugründung Europas“. Auch dies ist ein großes Wort, ja. Aber dahinter stecken inzwischen konkrete Vorschläge und Projekte, die Macron am 7. September in Athen und am 26. September in der Sorbonne in Paris dargelegt hat. In diesen Zusammenhang gehört auch der am 13. Oktober vorgelegte „Strategische Überblick“ der Verteidigungsministerin Florence Parly. Dort steht Europas Sicherheit an erster Stelle der französischen Vorschläge für ein „souveränes, einiges und demokratisches Europa.“
Niemand muss erwarten oder befürchten, dass diese Vorschläge eins zu eins umgesetzt werden können. Denn über viele Begriffe und Zielvorstellungen muss erst gestritten und verhandelt werden. Aber niemand sollte auch erwarten oder hoffen, dass Paris es schon nicht so ernst meinen wird. Nein, hinter diesen Vorschlägen steht nicht nur ein politischer Wille im Elysee-Palast, der seine Stärke gezeigt und dafür zweimal ein klares Mandat der französischen Wähler erhalten hat, im Mai für die Präsidentschaft und im Juni für das Parlament. Dahinter steht auch eine inhaltliche Nähe zu offiziell beschlossenen Positionen in Deutschland, die freilich im deutschen Wahlkampf keine Rolle gespielt haben, obwohl sie für die Zukunft der beiden Länder und Europas insgesamt von großer Bedeutung sind.
So heißt es im Weißbuch der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik von 2016: „Nur wenn es gelingt, interne Bruchlinien zu überwinden, zentrifugalen Kräften erfolgreich entgegenzuwirken, den Modernisierung- und Innovationspfad beharrlich weiter zu beschreiten und damit die innere Kohäsion und Einigkeit der EU zu stärken, wird sie auch in Zukunft stabilisierende Wirkung auf unsere Nachbarschaft entfalten. Insofern gilt es, sämtliche Möglichkeiten des Vertrags von Lissabon zu nutzen.“ Viel umständlicher kann man freilich nicht sagen, dass auch Deutschland ein „einiges Europa“ will. Und hinter der Formulierung von „sämtlichen Möglichkeiten des Vertrags von Lissabon“ steht unausgesprochen die Bereitschaft, im Rahmen der EU in Form der „Permanent Strukturierten Zusammenarbeit“ (PESCO) eine aktive Sicherheitspolitik zu betreiben, das heißt Fähigkeiten zur militärischen Krisenintervention zu schaffen, sich in Richtung auf ein „souveränes Europa“ zu bewegen. Dazu haben sich jetzt 23 der noch 28 EU-Mitgliedstaaten verpflichtet – nicht zuletzt auf Initiativen von Frankreich und Deutschland hin – nur dass Macron dafür in seinem Wahlkampf aktiv geworben und deshalb ein Mandat des Wählers geholt hat, Frau Merkel nicht. Von einem „demokratischen Europa“, also von der demokratischen Kontrolle solcher Aktivitäten auf europäischer Ebene, ist in diesem Zusammenhang bei den Deutschen übrigens nicht die Rede.
Eine „Europäische Interventionsinitiative“ jedenfalls ist das Kernstück der französischen Vorstellungen von strategischer Autonomie, die das Land für sich angesichts eines „instabilen und unsicheren internationalen Systems“ reklamiert, die es aber nur in enger Verbindung zuerst mit Europa, dann mit bilateraler Zusammenarbeit mit europäischen Partnern und im transatlantischen Verbund realisieren kann. Dabei bleibt auch für Paris einerseits die NATO der beste Garant für die kollektive Verteidigung und für den Schutz gegen Bedrohungen aus der südlichen Peripherie Europas. Da andererseits die Fähigkeiten der NATO stark vom Engagement der USA abhängen und die Amerikaner sich zunehmend von Europa entfernen, steht für die Franzosen die Stärke der transatlantischen Beziehungen aber doch sehr in Frage. So ist Deutschland für Frankreich der wichtigste Partner bei der Stärkung europäischer Ambitionen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Diese Ambitionen sind darauf gerichtet, eine „strategische Autonomie“ Europas zu erreichen, die es erlaubt, gemeinsame sicherheitspolitische Interessen in einer zerfallenden internationalen Sicherheitsordnung eigenständig wahrnehmen zu können, auch wenn der große Partner jenseits des Atlantik seine eigenen Interessen nicht in gleicher Weise berührt sieht. Für eine solche Autonomie aber – und das dürfte die härteste Nuss sein, die dabei zu knacken wäre – fordert Paris für Europa die Entwicklung einer „gemeinsamen strategischen Kultur“. Nein, das ist nicht eine Militarisierung von Außenpolitik, sondern der absolut notwendige und schwierige Versuch, in den alten Nationen Europas mit ihren sehr unterschiedlichen Traditionen ein gemeinsames Verständnis dafür zu entwickeln, unter welchen Bedingungen und in welcher Form die Anwendung militärischer Gewalt in der Wahrnehmung außenpolitischer Interessen angezeigt sein könnte. Es ist der absolut notwendige Schritt, in diesem Sinne gemeinsame Interessen einvernehmlich zu definieren.
Daraus leitet Paris drei Vorschläge zur Umsetzung seiner Initiative ab, die zu Beginn des kommenden Jahrzehnts, sprich zum Ende der ersten Amtszeit Macrons, vollzogen sein soll: Die Erarbeitung einer gemeinsamen Militärdoktrin, der Aufbau einer gemeinsamen und glaubwürdigen militärischen Interventionsfähigkeit, sowie gemeinsame Haushaltsregeln. Dies sind ambitiöse Vorschläge für eine eigenständige militärische Interventionsfähigkeit eines „neu gegründeten“ Europas, die freilich ihren Sinn nur finden kann im Rahmen einer politischen Union Europas, die weit über das hinaus geht, was die Europäische Union heute ist. Mit seinem Politikentwurf wirft Paris also auch die Frage nach der Zukunft der europäischen Integration auf. Und spätestens hier ist Deutschland, wie alle anderen Partner auch, gefragt.
Frankreichs neue Sicherheits-und Verteidigungspolitik ist also nicht nur die Anpassung eines politischen Konzepts an eine neue politische Wirklichkeit. Sie ist ein sehr viel weiter reichendes politisches Programm, an dessen Ausgestaltung sich die Partner Frankreichs, vor allem aber Deutschland, aktiv beteiligen sollten.
Schlagwörter: Detlef Puhl, Deutschland, Emmanuel Macron, Europa, Frankreich, Militärdoktrin, Sicherheitspolitik