20. Jahrgang | Nummer 23 | 6. November 2017

Der Bildhauer und der Dichter

von Mathias Iven

Es gibt Themen, die alle paar Jahre neuerlich ins Blickfeld der Forschung geraten. Dazu zählt auch das Verhältnis zwischen Rilke und Rodin, das die in Brooklyn lebende Journalistin Rachel Corbett zum Gegenstand ihres ersten, streckenweise als Parallelbiografie angelegten Buches gemacht hat. „You Must Change Your Life. The Story of Rainer Maria Rilke and Auguste Rodin“, lautet der Originaltitel der im vergangenen Jahr veröffentlichten Erstausgabe. In deutscher Übersetzung erscheint das Buch pünktlich zu Rodins 100. Todestag am 17. November. Basierend auf den wenig mehr als einhundert erhaltenen Schreiben, die Rilke und Rodin zwischen 1902 und 1913 gewechselt haben, vor allem aber unter Einbeziehung zahlreicher anderer Korrespondenzen Rilkes, genannt seien hier der Briefwechsel mit seiner Frau Clara Westhoff und deren Freundin Paula Modersohn-Becker, legt Corbett ein einfühlsames Porträt zweier herausragender Künstlerpersönlichkeiten vor, die sich, folgt man ihrer Darstellung, „durch die verwirrende Großstadt Paris tasten, um ihren Weg zur Meisterschaft zu finden“.
Im Sommer 1902 wandte sich Rilke mit folgenden Worten an Rodin: „Verehrter Meister, ich habe es unternommen, für die neuen Kunst-Monographien, die Professor Richard Muther herausgibt, den Band zu schreiben, der Ihrem Werk gewidmet ist.“ Dieser Entschluss war keiner Laune geschuldet. Sicherlich war Muthers Anregung entscheidend, doch hinzu kam Rilkes generelle Bewunderung von Rodins Werken, die, so notierte er in seinem Tagebuch, „nicht herausschauen, nicht von irgendeinem Punkte her persönlich sich an einen wenden wie zu einem Gespräch, sondern immer Kunstwerk bleiben“. Und schließlich war es Rodins kurzzeitige Schülerin Clara Westhoff, die Rilke im Haus von Heinrich Vogeler in Worpswede kennengelernt und im April 1901 geheiratet hatte, die diese Arbeit beförderte.
Rilke musste nur wenige Tage auf die Antwort Rodins warten: „Ich freue mich, dass Sie eine Studie über mich machen. Sie wird größere Vollständigkeit haben, wenn Sie in den Herbstmonaten nach Paris kommen.“ Solcherart Einladung galt es aufzugreifen. Im August 1902 machte sich Rilke auf den Weg. Drei Tage nach seiner Ankunft, am Nachmittag des 1. September 1902, fand die erste Begegnung in Rodins Atelier statt. Zwar stand Rilkes erster Pariser Aufenthalt – der mit Unterbrechungen bis zum Juli 1903 dauern sollte – im Zeichen der Arbeit an der Monografie. Doch es ging ihm um mehr, wie er Rodin bereits zehn Tage später gestand: „Nicht nur weil ich eine Studie machen wollte, bin ich zu Ihnen gekommen, – sondern um Sie zu fragen: Wie soll man leben? Und Sie haben mir geantwortet: Indem man arbeitet.“
Zwei Jahre vergingen. Im September 1905 kam Rilke erneut nach Paris. Anders als bei seinem vorherigen Besuch bot Rodin ihm nicht nur an, bei ihm zu wohnen, sondern für ihn „als eine Art Privat-Sekretär“ zu arbeiten. Rilke stimmte umstandslos zu, denn Rodins Nähe, so erfuhr der Mäzen und Literat Karl von der Heydt, „ist mir eine Arbeitsathmosphäre voll Wärme und Fruchtbarkeit“. Das Versprechen, dass er neben der Erledigung von Rodins Korrespondenz genügend Zeit für seine eigene Arbeit haben würde, erwies sich jedoch alsbald als trügerisch: „Der Denker“ beanspruchte Rilke monatelang. Im Winter 1905/06 verfasste und beantwortete er hunderte von Briefen, die im Zusammenhang mit den Verhandlungen für den Bronzeguss von Rodins wohl berühmtester Plastik standen. Ursprünglich Teil eines ihn bis an sein Lebensende beschäftigenden Portals für das Pariser Musée des Arts Décoratifs, wurde der „Denker“ vor dem Panthéon aufgestellt und am 21. April 1906 enthüllt.
Knapp drei Wochen nach diesem Ereignis kam es zwischen Rilke und Rodin zum Bruch. Den Ausschlag gab ein von Rodin als „Pflichtverletzung“ deklariertes Missverständnis, die Bearbeitung seiner Korrespondenz betreffend. Seiner Frau Clara teilte Rilke dazu lediglich mit: „Es mußte wohl kommen, und es kam so von selbst.“ In der Rodin übersandten Erklärung vom 12. Mai 1906 las es sich so: „Nun, ich habe nicht gezögert, Ihnen, statt zwei Stunden, fast meine ganze Zeit und alle meine Kräfte (leider habe ich davon nicht zu viele) zu geben, sieben Monate lang. Meine Arbeiten sind seit langem im Rückstand geblieben: aber wie glücklich war ich dennoch, Ihnen dienen zu können.“ Und im Rückblick auf eine längst vergangene Zeit stellte Rilke 1924, zwei Jahre vor seinem Tod, in einem Brief an den Literaturhistoriker Alfred Schaer klar: „Daß ich Rodins Sekretär gewesen sei, ist nicht viel mehr als eine hartnäckige Legende […] Aber sein Schüler bin ich viel besser und viel länger gewesen“.

Rachel Corbett: Rilke und Rodin. Die Geschichte einer Freundschaft, Aufbau Verlag, Berlin 2017, 379 Seiten mit 22 Abbildungen, 25,00 Euro.