von Dieter Naumann
Möglichkeiten für Radfahrer, sich auf der Insel Rügen zu bewegen, wurden in alten Reiseführern kaum erwähnt. Beim Reiseführer von Edwin Müller aus dem Jahre 1886 oder dem Dunker von 1888 ist das verständlich, zu ihrer Zeit befand sich die Entwicklung des Fahrrade noch in den Anfängen, selbst der Name war noch weitgehend unbekannt, obwohl bereits 1884 der „Deutsche Radfahrerbund“ in Leipzig gegründet worden war. So muss man im Brockhaus von 1887 unter „Velociped“ nachschlagen, um zu erfahren: „Velociped (vom lat. velox, d. i. schnell, und pes, d. i. Fuß), eine Maschine, welche die Ausnützung der menschlichen Muskelkraft zur selbständigen Fortbewegung in vorteilhafterer Weise, als dies beim Gehen möglich ist, gestattet.“ Was danach an zwei-, drei- und sogar vierrädrigen Konstruktionen („Sociable“ mit vier Rädern für zwei nebeneinander sitzende Personen) erläutert wird, wirkt nur wenig vertrauenerweckend.
Neben den anfangs noch unvollkommenen und unpraktischen Fahrradkonstruktionen dürfte lange Zeit auch der Zustand der Straßen und Wege auf Rügen einer schnellen Verbreitung des Radfahrens entgegengestanden haben. Müllers Reiseführer schrieb dazu, die Wege auf Rügen seien vielfach so schlecht, „daß selbst der passionierteste Fußgänger die Fahrt (mit einem zweispännigen Fuhrwerk – D.N.) vorziehen wird“.
Nur langsam reagierten Badeorte, Hotels und in ihrem Gefolge die Reiseführer auf die neuen Bedürfnisse: „Da durch Radfahrer und Automobilisten die Landstraße wieder zur Geltung kommt, sind in unserm Führer auch viele Wege beschrieben, die von Fußgängern weniger benutzt werden“, heißt es im Griebens Reiseführer von 1910–1911. In seinem Anzeigenteil hatte schon der Reiseführer von Schuster 1903–1904 J. Riegers Gasthof in Crampas als „Radfahrer-Hülfsstation“ ausgewiesen, in den Reiseführern von Grieben (1905–1906) und Gauge (1906–1907) annoncierte das seit 1888 in Familienbesitz befindliche Lobber Gasthaus „Zum Walfisch“ von Carl Kliesow mit einer „Radfahrer-Hülfsstation“, 1908 bewarb Curt Lenz sein Sassnitzer „Hotel Tourist“ in einem regionalen Führer als „Bundes-Hotel des Deutschen Radfahr-Bundes“.
Radfahrklubs und -vereine gab es auch auf Rügen schon recht früh: Bereits am 1. Oktober 1895 organisierte der Radfahrklub in Bergen mit 18 Herren ein Wettfahren, bei dem nach sechs Kilometern auf der Gingster Chaussee Herr Kaufmann Schlie, Herr Kaufmann Nehls und Herr Walter Krohß am Bahnhofshotel die ersten Plätze belegten. Am 24. März 1903 hatte in Putbus das Stiftungsfest des Radfahrervereins stattgefunden, bei dem es nach einem Korso- und Preisfahren nach Bergen ging, wo sich weitere Radfahrer anschlossen und über Samtens, Garz und Kasnevitz zurück nach Putbus fuhren.
Auf einer Fotografie um 1907 sind unter den abgebildeten 13 Mitgliedern des Radclubs „Charenza“ in Garz immerhin auch sechs Frauen mit ihren Rädern zu sehen. Wie die Damen mit ihren knöchellangen Röcken gefahrlos Rad fahren konnten, ist freilich ein Rätsel …
Wenig später, im April 1908, gründete sich im Bergener „Hotel Adler“ der „Radfahrklub Rügen“ mit 14 (männlichen) Mitgliedern, 1926 folgte in Sagard der Radfahrerklub „Wanderlust“ …
Sie und die anderen Radfahrer kamen ab Februar 1906 in den Genuss unbeschränkt gültiger Radfahrkarten. Auf ihnen waren üblicherweise Name, Alter, Statur, Haarfarbe und besondere Kennzeichen des Inhabers vermerkt. Bis dahin mussten die als Ausweise für jeden Radler vorgeschriebenen Karten jährlich abgestempelt werden. Von dieser „lästigen Formalität“ wurden die Radfahrer fortan durch eine Verfügung des „Herrn Oberpräsidenten“ befreit, berichtete das Rügensche Kreis- und Anzeigeblatt. Noch wenige Jahre zuvor wurde der Radfahrer Hermann Overbeck aus Mecklenburg bei einer Fahrt durch Pommern zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er die vom Oberpräsidenten zu Stettin verordnete Radfahrerkarte nicht vorweisen konnte, die auch für „Ausländer“ gelte. Grund für das Versäumnis: Es gab eine solche Karte in Mecklenburg nicht, was die Richter auch in der Revisionsverhandlung nicht beeindruckte. „Welche traurigen Aussichten ergeben sich aus solchen Entscheidungen für die Verkehrszustände in Deutschland“, schrieb Professor Schumacher, Autor des Anhangs zu juristischen Problemen des Radfahrens in Paul Schiefferdeckers 1900 bei Ulmer veröffentlichtem Buch „Das Radfahren und seine Hygiene“ (538 Seiten!). Schumacher, damals immerhin Amtsgerichtsrat zu Köln, sprach in diesem Zusammenhang von Zuständen, „welche dem Mittelalter am nächsten stehen“.
Kaufmann Großmann aus Kasnevitz sollte nach der Verordnung vom 26. April 1900 mit sechs Mark, eventuell zwei Tagen Haft bestraft werden, weil er am 29. Juni auf der Lindenallee „mit dem Rade gefahren“ sei, berichtete das Rügensche Kreis- und Anzeigeblatt am 21. August 1903. Großmann wurde jedoch freigesprochen, weil das Königliche Schöffengericht zu Bergen „solche Alleen, die neben der Fahrstraße herlaufen, als Bankette“ ansah, „die von den Radlern außerhalb des Ortes genutzt werden können“.
Nicht nur an die Geschwindigkeiten der Automobile, sondern auch an die der Fahrräder musste man sich anfangs wohl erst gewöhnen. Das Rügensche Kreis- und Anzeigeblatt vom 29. September 1908 berichtete, dass es „bei den Krümmungen der Dorfstraße … für spielende Kinder bisher recht gefahrdrohend (war), durch die schnellfahrenden Automobile überfahren zu werden“. Auf Veranlassung des Herrn Landrat seien deshalb an den Dorfausgängen jetzt „Schritt!“-Tafeln aufgestellt worden. „Da der Spielplatz der Dorfkinder die Dorfstraße berührt, müssen auch Fuhrwerke und Radfahrer diese Warnung beachten.“
Die Straßen, erst recht die wenigen Radwege blieben (und sind es teilweise noch heute) lange Zeit ein Problem für die Radfahrenthusiasten. Durch „Selbst- und Radfahrer“ würde gern die Anreise über Greifswald, Reinberg und die Glewitzer Fähre genutzt, hieß es in vielen Reiseführern, ansonsten wurden speziell für Radfahrer nur wenige Touren empfohlen. Griebens Reiseführer von 1910–1911 nahm für sich zwar in Anspruch, viele Wege zu beschreiben, die weniger von Fußgängern, wohl aber von Auto- und Radfahrern benutzt werden, aber noch 1935 schrieb der Reiseführer von Woerl: „Auch für Radfahrer ist man bemüht, Wege zu schaffen, an denen es bis jetzt noch gemangelt hat.“
Für einige Zeit hatte das Fahrrad auf Rügen eine Karriere als Dienstfahrzeug. So waren die Landbriefträger ab 1898 auch mit Fahrrädern unterwegs. Die dafür angeschafften Diensträder „wiegen 33 Pfund, sind stabil gebaut und gelb angestrichen. Künftig soll aus den Bewerbungsunterlagen hervorgehen, daß der Bewerber auch schon mit dem Zweirad umgehen kann“, hieß es im Juni 1898 in einer Meldung des Anzeigers für die Stadt Bergen. 1928 stellt die Selliner Feuerwehr auf Antrag von Kamerad Witt eine Fahrradabteilung in Dienst, die den Handlöschapparat beförderte. Eine spezielle Art von „Dienstfahrrad“ nutzten Angehörige des ehemaligen, abseits gelegenen Garnisonsstandortes Dranske der Volksmarine: Wer im Ausgang eine Gaststätte aufsuchen wollte, musste sich nach Altenkirchen, Wiek oder Juliusruh begeben. Den kilometerlangen Rückweg verkürzten einige der Stützpunktangehörigen durch „Ausleihe“ eines beliebigen Fahrrades, das sich – sehr zum Ärger der Bevölkerung – allenfalls verrostet im Hafenbecken wieder anfand.
Die oben erwähnten Radfahrkarten hatten nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet der späteren DDR eine kurze Renaissance: Die Kreispolizeiämter gaben sie aus, um eine Beschlagnahme der Räder durch sowjetische Soldaten zu verhindern.
Wer heute auf Rügen mit dem Rad unterwegs sein will, sollte mit „Radfahren auf Rügen“ googeln, hier finden sich Webseiten, die nicht nur empfehlenswerte Routen ausweisen, sondern sogar zeitnah den Zustand der rügenschen Radwege beschreiben.
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