von Alfons Markuske
Der Lahemaa-Nationalpark, der 1971 als erster seiner Art in der Sowjetunion eingerichtet worden war, um bedrohten Spezies wie diversen Adlerarten, Nerz, Schwarzstorch und Moorschneehuhn ein Refugium zu geben, liegt im Norden Estlands. Er grenzt direkt an die Ostsee und schließt etwa 25.000 Hektar von deren Wasserfläche mit ein.
Dorthin machen wir uns von Tallinn aus auf den Weg. Erste Station – Gut Palmse, das unser Reiseführer, wie wir bestätigen können, zu Recht als „Schmuckstück und Touristenmagnet unter den estnischen Gutshäusern“ anpries. 1676 in den Besitz der deutsch-baltischen Familie von der Pahlen gelangt, wurde es in den späten 1720er Jahren mit einem prächtigen zweigeschossigen Gutshaus versehen, das sein heutiges spätbarockes Antlitz bei Umbauten Ende des 18. Jahrhunderts erhielt. Wie auch etliche Nebengebäude und ein weitläufiger Park erwartet es den Besucher in liebevoll restauriertem Zustand. Während die Nebengebäude einem Hotel, einem Restaurant und einem Palmenhaus Raum geben, ist das Gutshaus Museum, das über die wechselvolle Geschichte des Gutes und seiner Eigentümer informiert. Letztere gehörten zur ubiquitären begüterten deutschen Oberschicht im Lande, die sich bereits ab dem Mittelalter zunächst unter dänischer Herrschaft, dann unter der des Deutschen Ordens etabliert hatte und von den nachfolgenden Herrschern, erst schwedischer, später russischer Provenienz in ihrem Besitz und ihren Privilegien im Großen und Ganzen nicht angetastet wurden.
Im Gegenzug waren die von der Pahlens loyale Untertanen. Mit dem Talent, auf das richtige Pferd zu setzen: Einer der ihren ging Katharina II. bei der Beseitigung ihres Gatten zur Hand, was der Zerbster Prinzessin selbst auf den Thron verhalf. Die von der Pahlens stellten den Zaren des Weiteren nicht nur Generäle wie vom Fließband, sondern später auch den Erbauer der ersten Eisenbahnstrecken im nachmaligen Estland.
Quartier nahmen wir anschließend in Sagadi – einem Pendant zu Palmse, dessen Gebäude ebenfalls ein spätbarockes Outfit aufweisen und dessen Fassaden sehr apart mit Rosa und Weiß aufwarten. Die Größe und Ausstattung der Hotelzimmer rangiert auf gehobenem Niveau – cum grano salis: Jetzt wissen wir, dass man eine Beherbergungskemenate auch gänzlich ohne jegliche Kleiderhaken, -ständer oder gar -schrank auf den Markt bringen kann.
Von Sagadi aus ging es am nächsten Tag hinein in den Nationalpark. Der besteht im Wesentlichen aus Wildnis – vornehmlich Wald, in dem die geschützten Tierarten sich vornehmlich nicht sehen lassen –, aus Küste, Wasser und Himmel über allem. Damit aber der deutsche Gast gar nicht erst dem Gedanken näher tritt, das könne er so auch an der Müritz haben, sorgen die Esten als gewiefte Touristiker selbst für Highlights – etwa nördlich des Feriendörfchens Käsmu, wo Estland im Finnischen Meerbusen endet. Dort, direkt an den Gestaden der Ostsee, stößt der Wanderer auf einen offensichtlich nicht von der Natur geschaffenen Haufen handballgroßer, doch auf natürliche Weise rund geschliffener Steine, und eine Tafel informiert: An besagter Stelle sei dereinst Schwedenkönig Gustav Adolf II. – der kam bekanntlich viel herum, wie man nicht zuletzt an seiner Grabstätte nahe Lützen bei Leipzig ersehen kann – an Land gegangen; er habe auf einen Stein seinen Namen geschrieben – über das Motiv schweigt die Tafel sich aus – und den Großkiesel am Ufer abgelegt. Anschließend wären Besucher jahrhundertelang diesem Beispiel gefolgt …
Nicht verpassen sollte man, wenn man schon mal in der Gegend ist, eine Einkehr in der urigen, aus dicken Holzbalken gezimmerten Gaststätte Altja Körts im früheren Fischerdorf Altja – ohne Fenster im Gastraum (zum Schutz gegen winterliche Kälte?), dafür mit schlichten Holztischen und -bänken sowie schmaler, aber authentischer (!) Speisekarte. Köstlich. Und mit einem Glas Kwas dazu – noch köstlicher!
Nächstes Reiseziel war Tartu, Estlands zweitgrößte Stadt, mit traditionsreicher Universität und etwa 20.000 Studenten. Die Strecke dorthin kann man so wählen, dass man entlang des Peipussees fährt und ohne Weiteres auch direkt an dessen Gestaden Zwischenhalt einlegen kann. Durch den See, der mit über 3500 Quadratkilometern den Bodensee zum Mickerling macht, verläuft die Grenze zu Russland und auf demselben wurde europäische Geschichte geschrieben. Auf seinem Eise schlug am 5. April 1242 ein russisches Heer unter Alexander Newski, der historisch an der Wiege Russlands stand, die vereinigte Streitmacht der deutschen Ritterorden und stoppte damit deren Ostexpansion, die im Kontext der Kreuzzüge erfolgte. Vor allem deswegen benannte die russisch-orthodoxe Kirche später ihre Kathedralen so gern nach diesem Kriegshelden – so auch in Tallinn, wie bereits berichtet worden ist.
Dann Tartu, fast tausend Jahre alt. Dessen Universität wurde 1632 – damals trug die Stadt den deutschen Namen Dorpat – gegründet, also zu schwedischer Zeit. Später war sie die einzige deutschsprachige Universität des Zarenreichs. Mitten in der Altstadt erhebt sich der Domhügel mit der Ruine des mittelalterlichen Backsteindoms, dessen ausgebauter Chor erst die Universitätsbibliothek beherbergte und heute das Universitätsmuseum, sowie mit weiteren Gebäuden der Uni, etwa dem alten anatomischen Theater, in dem bis vor wenigen Jahren noch medizinischer Lehrbetrieb stattfand. Nur wenige Fußminuten entfernt thront die wuchtige Johanniskirche, eines der beeindruckenden Bauwerke der Backsteingotik im Norden Europas. Ihre erhaltenen über 1000 Terrakotta-Figuren an der Außenfassade und vor allem im Kirchenschiff gelten als einzigartig in der europäischen Kunstgeschichte.
Auf der Weiterfahrt lassen wir – nun schon in Lettland – das Städtchen Cēsis, früher Wenden, nicht links liegen, denn es zählt zu den schönsten mittelalterlichen des Landes. Dazu tragen die gewaltigen Überreste der über den Dächern aufragenden früheren Burg des Livländischen Ordens ihren Teil bei. Die Burg wurde Anfang des 13. Jahrhunderts errichtet und diente bis 1561 diversen Ordensmeistern als Residenz.
Geheimtipp für Leckermäuler: Im unweit der Burgruine gelegenen Restaurant „2 Locals“ gibt es die besten in Butter gebratenen Eierkuchen mit Erdbeersoße zwischen Berlin und der russischen Grenze. Doch Achtung: Nur auf der Kinderkarte! Dort als Pancake with strawberry sauce ausgewiesen.
Anschließend Weiterfahrt – wieder zeitweise über schnurgerade Fernstraßen und durch, wären die baltischen Republiken nur ein wenig größer, wohl endlose Wälder. In denen wird auf Verkehrsschildern sehr häufig vor Wildwechseln gewarnt – nicht mittels springendem Hirsch, sondern durch einen aufgerichteten, auf den Hinterläufen quasi tänzelnden Elch. Als würde der dort heimische Riese vorzugsweise steppend die Straßenseiten wechseln. Zu einer praktischen Inaugenscheinnahme kam es allerdings – eher gottseidank denn leider – nicht.
Nächstes Reiseziel – Riga.
Wird fortgesetzt.
Schlagwörter: Alfons Markuske, Baltikum, Deutscher Orden, Lahemaa, Palmse, Tartu