20. Jahrgang | Nummer 21 | 9. Oktober 2017

Baltischer Dreiklang – Tallinn

von Alfons Markuske

Das Bonmot „There is no such thing as bad weather, only unsuitable clothing. / Es gibt kein schlechtes Wetter, nur unpassende Kleidung“ ist nicht mehr wirklich witzig und schon gar nicht mehr zielführend – wie das heute so hübsch neudeutsch heißt –, wenn von 14 Tagen Rundreise durch Städte, Örtchen, Landschaften und an Strände des Baltikums der überwiegende Teil von Regen bis Starkregen ertränkt wird. Da bekommt man entweder den Blues oder man entscheidet sich rechtzeitig, mit gewisser Härte gegen sich selbst und mit konsequenter Ignoranz gegenüber den Elementen, das Beste daraus zu machen.
Wir flogen zunächst nach Tallinn, übernahmen dort einen Leihwagen und bewegten uns anschließend auf einer vorgeplanten Route mit Spielräumen für Spontanes und jeweils mit Zwischenaufenthalten in den betreffenden Ländern erst nach Riga und dann nach Vilnius. Flüge, Hotels, PKW und individuelle Stadtführungen in den drei baltischen Hauptstädten hatte ein kleiner Spezialreiseanbieter für uns arrangiert. Wahrscheinlich hätte man das alles dank Internet auch selbst hinbekommen, aber mit Hilfe von Profis konnten wir uns so ganz auf die Reise selbst konzentrieren. Und hatten – der einheimischen Idiome ja nicht mächtig – noch dazu eine Notfallnummer vom Anbieter für Fälle, in denen mal etwas nicht klappte…
Start also in Estland – direkt vor der Höhle des russischen Bären, der da gerade mit seinem turnusmäßigen Manöver „Zapad 2017“ seine Krallen zeigte. Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaite – sie kennt die Russen dank ihres Studiums an der Staatlichen Leningrader Universität und späteren Promotion an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU besonders gut – gab dies Veranlassung, sich beim UN-Generalsekretär zu beschweren, weil die Übung von „einem aggressiven und offensiven Charakter“ zeuge. Der estnische Regierungschef Jüri Ratas zeigte sich deutlich gelassener. „Wir fühlen uns nicht unmittelbar bedroht“, sagte er kürzlich dem SPIEGEL.
Unsere Stadtführerin in Tallinn eröffnete ihre Ausführungen über die Geschichte des Landes und seiner Metropole mit diesem Statement: „Nach über 600 Jahren Fremdherrschaft errang Estland im Jahre 1918 seine Unabhängigkeit zurück.“ Eine eigentümliche Zusammenfassung, denn als die Dänen Gefallen an diesem Landstrich fanden und 1219 als erste Eroberer in Erscheinung tragen, lebten dort finnougrische Stämme, ein Reich oder Staat allerdings bestand nicht. Auf die Dänen folgten deutsche Kreuzritterorden, dann die Schweden und 1710 schließlich nahm Peter der Große diesen das Gebiet ab und gliederte es in Form von Provinzen ins Russische Reich ein. Seine Prägung aber erhielt dieser Landstrich vor allem durch deutsche Kaufleute, 1230 vom Schwertbrüderorden erstmals ins Land geholt und angesiedelt, sowie später auch durch deutsche Landadelige, und Reval, wie der deutsche Name der Stadt bis 1918 offiziell lautete, erlebte eine lange Blütezeit vor allem durch seine Zugehörigkeit zur Hanse, die bereits für das 13. Jahrhundert belegbar ist. Der Fernhandel brachte erheblichen Reichtum ein, der Begehrlichkeiten anderenorts weckte. Um sich vor denen zu schützen, wurde eine mächtige Stadtmauer errichtet – im 16. Jahrhundert war sie 2,4 Kilometer lang, 14 bis 16 Meter hoch, bis zu drei Meter dick und mit 40 Wach- und Wehrtürmen bewehrt. Reval galt damals als eine der bestverteidigten Festungen des Ostseeraumes. Aus dieser Zeit sind noch 1,9 Kilometer Stadtmauer sowie immerhin 18 der Türme erhalten und geben der Altstadt ihr pittoreskes Gepräge. Der wuchtigste der Türme, die Dicke Margarethe, stand vor Jahrhunderten direkt am Meer und deckte mit seinen Kanonen den Hafen. Heute kann man von der Turmspitze aus die Ostsee zwar noch sehen, aber bis zum Strand läuft man ein gutes Stück: Denn Estland wird geographisch jedes Jahr größer. An seinen Gestaden spült die See seit Jahrtausenden offenbar den Sand an, den sie sich zuvor unter anderem von Usedom und Rügen geholt hat.
Der mittelalterliche Charme der Altstadt geht nicht zuletzt aber auch auf ihre engen Gässchen und auf gut gepflegte Gildehäuser sowie das einzige noch rein gotische Rathaus in ganz Nordeuropa zurück. An letzterem hat es seit seiner Fertigstellung im Jahre 1404 praktisch keine stilverändernden Umbauten gegeben. Die Hauptfassade des zweigeschossigen Gebäudes wird von zwei Wasserspeiern in Gestalt von Drachenköpfen geziert, die zwar aussehen wie aus dem Fundus der Augsburger Puppenkiste, tatsächlich aber bereits aus dem Jahre 1627 stammen. Durch glückliche Fügung blieb dieses architektonische Großod auch von Schädigungen durch die einzige sowjetische Bombardierung der Tallinner Innenstadt im Zweiten Weltkrieg, am 9. März 1944, verschont, die zahlreiche Wohnhäuser und auch das historische Eichamt auf dem Rathausplatz zerstörte. Direkt gegenüber dem Rathaus befindet sich die Tallinner Ratsapotheke, die bereits seit dem 15. Jahrhundert Dienst tut und eine der ältesten Europas ist.
Vom Rathausplatz sind es nur wenige Fußminuten hügelan bis zur Domplatte, auf der sich die dreischiffige Basilika Sankt Marien erhebt, die seit den 1330er Jahren durch grundlegenden Umbau einer weit kleineren Vorgängerin errichtet wurde und die mit dem ihr 1778/79 hinzugefügten barocken Kirchturm heute eines der Wahrzeichen Tallins ist. Ursprünglich katholische Kathedrale wurde sie nach dem frühen Siegeszug der Reformation in dieser Region bereits Mitte des 16. Jahrhunderts lutherisch und ist heute Bischofskirche.
Unweit vom Dom, auf dem Areal und zum Teil auf den Grundmauern der früheren Burg der Stadt findet sich das spätbarocke Toompea Schloss, das zwischen 1767 und 1773 erbaut wurde und verschiedenen Herrschern über Estland als Sitz diente. Heute beherbergt es das Parlament.
Genau vor die Nase dieses Hauses und einen Großteil des vorherigen Schlossplatzes okkupierend – somit als unübersehbares Symbol des eigenen Machtanspruches – hat das zaristische Russland in den 1890er Jahren die mächtige orthodoxe Alexander-Newsky-Kathedrale hinklotzen lassen. Die Esten planten dem Vernehmen nach genau aus diesem Grund 1924, während ihrer ersten Unabhängigkeit, das Trumm wieder abzureißen. Dazu ist es nicht gekommen.
Auf dem Rückweg in die Altstadt hat man von einem Aussichtspunkt unterhalb der Domplatte einen Panoramablick über die gesamte Stadt – bis hin zu den Arbeiterschließfächern in Großblockbauweise, die zu Sowjetzeiten an den Stadträndern errichtet wurden, insbesondere für den Zuzug von Arbeitskräften aus der RSFSR. Russen machen heute, nach Angabe unserer Stadtführerin, 38 Prozent der knapp 420.000 Einwohner der Stadt aus. Man hört viel Russisch in den Straßen, Angebote an Schaufenstern sind weitgehend auch russisch abgefasst. Dito die Speisekarten der zahlreichen Restaurants und Cafés. Von Russophobie war insofern nichts zu spüren…
Apropos Essen: Unsere Frage nach typisch estnischer Küche beantwortete die Stadtführerin mit dem Hinweis, die sei ziemlich deutsch – Eisbein, Sauerkraut, Blutwurst. Wir fanden dann in Estland auch etliches ziemlich Undeutsche, nämlich häufig Pelmeni und Blini sowie im unvegetarischen Bereich öfters Elch, Bär und Biber.
Zum Ende des Tallinn-Tages trennten wir uns.
Der Schöngeist unseres Zweierteams fuhr mit der Tram zum Kadrioru loss (Schloss Katharinental), das Peter der Große zwischen 1718 und 1725 für seine zweite Gattin, Katharina I., in einem zurückhaltenden Barockstil, den Spätere mit dem Präfix Petrine versahen, hatte errichten lassen, und schwärmte hernach von den großartigen Parkanlagen.
Ich hingegen besuchte die Partie des Tallinner Marinemuseums, die in einem 1916/17 fertiggestellten und 2010 bis 2012 sorgfältig restaurierten ehemaligen Großhangar für Wasserflugzeuge untergebracht ist. Mit seinen Stahlbetonkuppeln beträchtlichen Ausmaßes und ohne jegliche stützende Innenpfeiler war das Bauwerk eine ingenieurtechnische Meisterleistung seiner Zeit und beeindruckt nach wie vor. Der Hangar war einst Teil der russischen Seebefestigungen zum Schutz des 320 Kilometer Luftlinie entfernten Sankt Petersburg. Heute zeigt das Museum dort einen Teil seiner immensen Sammlung von Seeminen – praktisch allesamt aus sowjetischer Produktion. Wie auch die meisten anderen dort ausgestellten Marinewaffen. Mit Ausnahme des Prunkstücks im Hangar – eines kompletten, für Besucher begehbaren U-Bootes, eines von zweien, die Estland in den 1930er Jahren von einer britischen Werft bezogen hatte. Das heutige Museumsstück war noch lange nach dem Krieg im Einsatz bei der Sowjetmarine und wurde erst 2011 – als ältestes noch im Wasser befindliches U-Boot (75 Jahre!) – endlich ins Trockene gehievt.
Als nächste Station unserer Tour steuerten wir den Lahemaa- Nationalpark an.

Wird fortgesetzt.