20. Jahrgang | Nummer 19 | 11. September 2017

Strategiestreit in den USA

von Erhard Crome

Der „Running Mate“ der demokratischen Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton, Tim Kaine, hat in der Sommerausgabe der einflussreichen außenpolitischen Zeitschrift Foreign Affairs eine neue Großstrategie der US-amerikanischen Außenpolitik gefordert. Die Wahlen sind vorbei und Donald Trump ist Präsident. Kaine meint: Die Demokraten sollten sich endlich damit abfinden und nach vorn schauen. Die Wahl Trumps habe gezeigt, dass eine Neubewertung der globalen Rolle der USA nötig wurde. Dies müsse das grundlegendste Neubedenken seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sein.
Hier muss noch einmal der historische Kontext erinnert werden. Nachdem Präsident Franklin D. Roosevelt die USA in den Zweiten Weltkrieg geführt hatte und unter seinem maßgeblichen Einfluss die UNO gegründet wurde, begann die lange Phase „internationalistischer“ Politik der USA, gekennzeichnet durch Globalstrategie und militärische Interventionen. Es waren Demokraten, die die USA in Kriege führten: Woodrow Wilson in den Ersten Weltkrieg, Roosevelt in den Zweiten Weltkrieg, Truman in den Korea-Krieg, Kennedy und Johnson in den Vietnam-Krieg. Und es waren „reaktionäre“ Republikaner, die diese Kriege beendeten: Eisenhower den Korea-Krieg, Nixon den Vietnam-Krieg. Insofern war George W. Bush unter dem Einfluss der neokonservativen Einflüsterer und der Öl-Lobby mit den Kriegen gegen Afghanistan und Irak die Ausnahme, während Barack Obama mit den Kriegen in Libyen und Syrien und der Druckpolitik gegen Russland wieder dem Muster entsprach.
Henry Kissinger, einer der Vordenker US-amerikanischer Machtpolitik, hatte kurz nach Ende des Kalten Krieges betont, die USA seien nun erstmals in einer Situation, eine Außenpolitik machen zu müssen, „wie sie die europäischen Nationen schon jahrhundertelang führen mussten“, nämlich eine interessengeleitete „Realpolitik“ unter der Voraussetzung einer „Balance of Power“ – also nicht eine neue Imperialpolitik. Bereits der Eintritt in den Ersten Weltkrieg wurde nicht mit Sicherheitsargumenten begründet, sondern mit einer „moralischen Unzulänglichkeit der deutschen Führung“. Auch die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus sei unter einer derartigen moralischen Attitüde erfolgt. Zu den Eigenheiten bisheriger US-amerikanischer Politik gehört, internationale Konflikte, die sicherheitspolitisch begründet waren oder aus Machtdivergenzen beziehungsweise Interessenkollisionen herrührten, ideologisch aufgeladen zu haben und als „Gut-Böse“-Konstellationen zu verarbeiten. Alle amerikanischen Kriege des 20. Jahrhunderts wurden als „gerechte“ geführt, der „guten“ USA gegen die jeweilige „Welt des Bösen“.
Nun hatte Donald Trump bereits im Wahlkampf, am 27. April 2016 im Mayflower-Hotel in Washington, seine außenpolitische Grundziele umrissen: Es gehe um Frieden und Wohlstand und deshalb um „eine neue außenpolitische Richtung“, in der „Ziellosigkeit durch Zweckgerichtetheit, Ideologie durch Strategie und Chaos durch Frieden“ ersetzt werden müssten. Die USA hätten es nach dem Kalten Krieg nicht verstanden, „eine neue Vision für eine neue Zeit“ zu entwickeln. An die Stelle logischen Handelns traten „Torheit und Arroganz“, die die Außenpolitik „von einer Katastrophe zur nächsten“ führte. Im Nahen Osten führte das von Irak zu Libyen und schließlich zu Obamas Linie in Syrien. Diese Politik stürzte die gesamte Region ins Chaos und gab dem sogenannten Islamischen Staat überhaupt erst Raum zur Entfaltung.
Offen kritisierte er Obama und Hillary Clinton, die als seine Außenministerin dafür mitverantwortlich war; in der Sache war es auch Kritik an der Außenpolitik der Bush-Familie und der „Neo-Konservativen“. Der Grundbefund lautete: Die USA seien geschwächt, weil sie wirtschaftlich geschwächt sind. Eine kohärente Außenpolitik müsse auf den amerikanischen Interessen beruhen. Dazu müsse das Land „aus dem Geschäft des nation-buildung“ in anderen Ländern „aussteigen“ und auf „Stabilität in der Welt“ zielen.
Kaine versucht nun seine Bilanz zu ziehen. Nachdem George W. Bush meinte, mit dem „Globalen Krieg gegen den Terror“ eine neue amerikanische Mission begründen zu können, zeigte sich bereits in dessen zweiter Amtszeit das Scheitern dieser Vorstellung. Das militärische Vorgehen gegen nichtstaatliche Schattenkämpfer konnte nicht eine Strategie dafür begründen, wie die USA mit der Welt interagieren sollten. Doch auch die Außenpolitik Obamas kommt bei Kaine nicht gut weg. Mit seiner Regierungsübernahme seien die USA in eine „trübe und nichtdoktrinale Phase ihrer internationalen Beziehungen“ eingetreten. Obama stand einer „großen Strategie“ skeptisch gegenüber und war bemüht, falsche Entscheidungen zu vermeiden. „Sollten die USA nun in Irak und Afghanistan bleiben? Sollten sie in Libyen und Syrien intervenieren? Sollte die Hinwendung nach Asien erfolgen? Sollten die USA auf Russlands Invasion in der Ukraine antworten?“ All dies wurde artikuliert, ohne dass eine Doktrin den Entscheidungen zugrunde lag. Die anderen Nationen hatten Schwierigkeiten zu verstehen, was die USA zu tun beabsichtigen. Die jüngste Präsidentenwahl habe diese Sorgen vergrößert.
Trumps Ansichten über den Welthandel und über die Bedeutung internationaler Institutionen unterscheiden sich sehr von denen Obamas. Er setzt auf kurzfristige wirtschaftliche Vorteile, nicht auf Menschenrechte. Aber auch er stehe für eine Außenpolitik, die von der Exekutive getragen wird, reaktiv ist und nicht einer klaren, langfristigen Strategie folgt, die vom Kongress, dem Parlament der USA, und dem Volk geteilt wird. Theoretisch sei auch dies ein guter Weg, um grobe Schnitzer und unnötige Abenteuer zu vermeiden.
Tatsächlich jedoch berge dies viel größere Risiken, weil eine neue „Truman-Doktrin“ für das 21. Jahrhundert erforderlich sei, die proaktiv und nicht reaktiv ist und den langfristigen Kurs der Regierung bestimmt. Sie müsse vor allem auf Zusammenarbeit mit den existierenden Demokratien setzen und sich den autoritären Regimen entgegenstellen. Washington müsse, so Kaine, Peking und Moskau vor allem mit dem Thema Menschenrechte konfrontieren. Die USA müssten auch im 21. Jahrhundert eine zentrale Rolle als humanitärer Führer der Welt spielen.
Das heißt, die außenpolitische Neuformierung der Demokratischen Partei soll am Ende wieder auf der Grundlage des globalistischen Interventionismus erfolgen. Wenn Trumps Folgerung aus der außenpolitischen Lage der USA war, sich aus den Regime-Change-Kriegen und Regime-Change-Putschen zurückzuziehen, so meint Kaine, die Vereinigten Staaten sollten dieses Geschäft nun erst recht betreiben. Dieser Streit wird sich angesichts der Verschärfung der Beziehungen der USA zu Russland und im Verhältnis zu China, nicht zuletzt angesichts der abenteuerlichen Drohungen aus Nordkorea, noch weiter zuspitzen.