von Ulrich Kaufmann
André Schinkel, ausgewiesen als Poet und Prosaiker, ist ebenso ein Essayist von Rang. Einen seiner essayistischen Texte hat er Gisela Kraft gewidmet, seiner 2010 verstorbenen Mentorin und mütterlichen Dichterfreundin. Dort verrät er, dass er das (hier zu lesende) Gedicht „Wunschbrunnen für Gisela Kraft“ schrieb, um die schon schwerkranke Dichterin zu erfreuen. Es kam zu spät, er konnte es ihr nur noch „nachrufen“. Solche Informationen erfährt der Leser aus dem Lyrikband „Bodenkunde“ nicht. Er sollte sich selbst auf das literarische (Um)-feld begeben. Wie sein letzter Prosaband „Das Licht auf der Mauer“ (2015) ist auch dieses Lyrikbuch eine „harte Nuss“, alles andere als marktkonform. Der Leser muss – zugespitzt gesagt, aber freundlich gemeint – entweder Universalgelehrter oder Dauergoogler sein. Wer aber koproduziert, wird reichlich beschenkt. So hilft die Übertragung des lateinischen Bandmottos „Hier sind Löwen und Drachen“, den prosanahen Text „Sostenuto“ für den von Schinkel bewunderten Dichter Wolfgang Hilbig aufzuschließen.
Man wünschte sich hier und da Brücken, „Anmerkungen“. Brecht riet Künstlern, den „Kreis der Kenner“ zu erweitern, ohne das eigene Niveau zu senken. Lyrik, schreibt der Archäologe Schinkel auf dem Klappentext, habe einen „schweren und leuchtenden Stand“, sie sei mit „Wandaltären“ in den „Höhlen der späten Altsteinzeit“ vergleichbar.
Der Band enthält 77 Gedichte. Die Zahl 7 soll, ist anderswo zu lesen, auch für Sicherheit und Durchhaltevermögen stehen. Ein Großteil der lyrischen Texte, meist im letzten Jahrzehnt entstanden, sind Liebesgedichte, auch deftige sind darunter. Welche Qualen müssen Liebende, „lyrische Sprecher“ beiderlei Geschlechts, erleiden, wenn sie sich einstmals anderen Partnern versprochen haben?
Das zarte Gedicht „Am Röthaer See“ bleibt auch wegen seines ergreifend-elegischen Schlusses besonders in Erinnerung. Der Dichter hat den Text 2008 bei der Jury des „Menantes-Preises für erotische Dichtung“ eingereicht. Durch die zahlreichen Zeilensprünge erhalten die Verse Spannung und Dichte:
„Das ist unsere Liebe, sag ich, und will es nicht
Glauben; und du schweigst, küßt mich und siehst
Mich nicht an, weil du den Abschied schon
Nimmst, von dem du nichts weißt, und der mir
Das Künftige bricht: der Schlaf und die Liebe, die
Träume nichts wert … derweil ich dich küsse“
Der studierte Literaturwissenschaftler André Schinkel ist ein formbewusster, variationsreicher Poet. Eine Sonettfolge, Prosagedichte, Lang- oder Kurzstrophen und vieles mehr beherrscht er souverän. Wie kommt man einem so dichten und reichhaltigen Band bei? Anregung gibt Schinkel in seinem Kraft-Essay „Trauerbeflaggung auf dem Katzenplanet“ selbst, indem er einige ausgewählte Gedichte in den Fokus nimmt. Sein Bandtitel „Bodenkunde“ lenkt die Phantasie des Lesenden in viele Richtungen. Die Vergänglichkeit allen Lebens ist dabei eine Facette. Das umfängliche Porträtgedicht „An Hüges Grab“ (2009) hat mich besonders ergriffen. Wie schnell werden Dichter vergessen, wer kennt heute noch Bernd-Dieter Hüge (Jahrgang 1944), der 2000 in Schinkels Heimatstadt Halle starb. In reichlich einem halben Jahrhundert hat er bittere Erfahrungen machen müssen: Der in Königsberg geborene Hüge landete als Kleinstkind nach der Flucht in Schleswig-Holstein. Mit 20 Jahren kam er zu seinem Vater in die DDR, drei Jahre später wollte er von dort fliehen. Wegen eines „Passvergehens“ kam er bis 1970 ins Gefängnis. Sein „Knastbuch“ (1991) hält das Erfahrene fest. Er arbeitete unter anderem im Braunkohlentagebau Senftenberg und als Maschinist.
André Schinkels Gedicht auf den Freund hebt vertraulich-freundlich an:
„Die aufgerauchten Träume vibrieren – in der Amsel
Hast du nen fleißigen Wächter, mein Lieber;“
Der Ton wird zunehmend bitterer. So heißt es, dass „der Mob deine Verse mit Schweigen erschießt“. Wenig später richtet der Dichter seinen Blick in die Literaturgeschichte, um an das Kontinuum deutscher Poetenschicksale zu erinnern:
„Das Raunen betäubter Generationen um uns,
Die Kunst am feigen Abgrund der Desillusion. Dach
Fern. Hölderlin wälzt sich im Fieber. Grabbe
Ein Trunkner, nun stiller, wie du verlorener Sohn.“
Was Schinkel für Gisela Kraft schrieb, gilt auch für Bernd-Dieter Hüge: „Die Utopie bleibt, es sind lediglich die Leiber der Dichter, die gehen. Man hat noch keinen Weg gefunden, sich ihrer längeren Anwesenheit zu versichern. Aber man kann in ihren Texten immerhin unterwegs sein …“
Ein Unterwegssein mit den Gedichten des hellwachen André Schinkel lohnt – unbedingt.
André Schinkel: Bodenkunde, Gedichte. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2017, 112 Seiten, 9,95 Euro.
Schlagwörter: André Schinkel, Bernd-Dieter Hüge, Gisela Kraft, Lyrik, Ulrich Kaufmann