von Klaus Hammer
Es ist die Kraft der Farbe und ihre gleichnishafte Aussagekraft für das menschliche Gefühl, die den Berliner Maler Volker Scharnefsky, dessen Landschaften jetzt in der Galerie der Berliner Graphikpresse gezeigt werden, zum Malen treibt. Üblicher als sonst rückt die Landschaft an uns heran. Das Nahgesichtige, die dicht auf uns zu rückende Kompaktheit der Komposition, die leuchtende Farbe geben ihr einen intensiven Gleichniswert für das Zuständliche im Maler.
Bei Scharnefsky ist das Bild gestaltet – Arrangement und Komposition kommen hier zusammen – und nicht nur eine bloße Dokumentation der Natur. Das Studium der Komplementärfarben und Kontraste führte ihn zu der Auffassung, das Äquivalent des Sonnenlichts durch eine Technik aus farbiger Orchestration und ergriffenen Umsetzungen der Natur zu finden, deren Wahrheiten und Erkenntnisse sich dem leidenschaftlichen, beharrlichen Suchen des Künstlers ergaben. Denn dann hört auch die Farbe auf, die alleinige Meisterin der Leinwand zu sein, unter Volumen und Licht, Hell und Dunkel ersteht die Form wieder. Die Fläche wird zum Raum, Perspektive und Tiefenillusion gesellen sich hinzu, und auch das „trompe-l’oeil“ („täusche das Auge“), ein Aspekt der illusionistischen Malerei, der mittels perspektivischer Darstellung Dreidimensionalität vortäuscht, den Raum größer erscheinen lässt oder den Ausblick auf eine Phantasielandschaft erzeugt, spielt keine ganz unwesentliche Rolle.
Warum inspirieren den Künstler die Berliner Stadtlandschaft (die wir in dieser Ausstellung nicht sehen), die mecklenburgische Landschaft, die Küstenlandschaft immer wieder von Neuem? Ausgangspunkt für seinen Arbeitsprozess ist dieses Wechselspiel von Ferne und Nähe, das sich durch Bewegung stets wieder neu ergibt. Natur kann nicht von einem stationären Beobachterstandpunkt wie ein Bühnengeschehen erlebt werden. Stets ist der Betrachter selbst Teil der Landschaft, stets im Mittelpunkt des Horizontkreises. Natur erlaubt nicht nur Nähe, sondern auch größtmögliche Distanz, die wohl nötig ist, ihr nahe zu kommen. Der Horizontalen, als stets bestimmendem Element seiner Arbeiten, sind verdichtete, flächige oder sich in Bewegungsverläufen in die Farbflächen auflösende Texturen zugeordnet. Das Spiel von Gestaltung und Auflösung entspricht dem Prozesscharakter der Natur. Fließende Übergänge, das Verschwimmen der Formen im vibrierenden Licht und in bewegter Luft, die Grenz- und Formauflösung der Elemente verliert Scharnefsky nie aus den Augen.
Es ist vor allem das Licht, mit dem sich der Künstler auseinandersetzt. Das Licht als Bedingung der Erscheinungsweise der Dinge in der Spannweite unserer Wahrnehmung, die bekanntlich begrenzt ist. Das Spiel des Lichts mit der Materie, das Farbe als Sinneswahrnehmung hervorruft, das wechselnde Licht, die wechselnde Atmosphäre, die gleichsam romantische Symphonie der Klänge (unter anderem das Generalthema der sogenannten Impressionisten) – das ist es ja, was viele Maler immer wieder in den Süden gezogen hat. Scharnefsky dagegen geht es um die Erfahrung des Nordens, der Landschaft zwischen Berlin und der Ostseeküste. Der atmosphärischen Wiedergabe von Luft, die im Dunst oder im Nebel über dem Wasser, in der Klarheit eines Wintertages oder im Grau des Regens spürbar wird, gilt seine Aufmerksamkeit. Ihn interessiert die herbe Schönheit der einheimischen Landschaft nicht topographisch, sondern verallgemeinernd gesehen.
Man kann mit den Augen durch diese Landschaft wandern und vergleichen, wie der Künstler sie veränderte und die Formen des Laubs und die zuckenden blauen Schatten in sprühende Pinselstriche, Tupfer und Flecken auflöste, die Bäume selbst zu vom Alter gebeugten und arthritischen Körpern machte („Waldpfad“, Öl auf Leinwand, 2017). Wieder spürt man dieses geschlossene Energiefeld, das sich in der Natur manifestiert. Diese Energie strömt durch das Licht, steigt vom Boden auf, verdichtet sich im Unterholz und in den Bäumen, weist in die Ferne, wo sich verheißungsvoll eine Lichtung öffnet („Herbstweg“, „Waldinneres“, beide Öl auf Leinwand, 2014). Die Landschaften Scharnefskys scheinen den Rahmen zu sprengen – die Fülle der Natur kennt keine Grenzen. Aufgehalten nur durch das dichte Laub des Unterholzes oder der Bäume im Vordergrund, schweift der Blick zu etwas Unbestimmtem im Hintergrund, das die geheimnisvolle Farbe des Himmels und der Ferne trägt.
Die Farben bilden bei Scharnefsky einen Klang. Sie haften ebenso pastos auf der Malfläche, nehmen reliefhafte Strukturen, die Form von „Ablagerungen“ an, dringen in den Raum, aber auch in die Malfläche hinein, durchtränken den Malgrund. Die Bilder sind harmonisch und sperrig zugleich. So sehr sie die Schwingungen der Wahrnehmungen eines sensiblen Betrachters aufnehmen, lösen sie sich im Malprozess auch in Zonen der Erinnerung, werden selbstständig und selbstgenügsam und fordern ihrerseits zu Wanderungen mit dem Auge und zur Kontemplation auf. Und doch bleibt das Gemalte Malerei, täuscht nichts vor, ist nicht Nachahmung. Je rätselvoller ihr poetischer Aspekt, umso klarer ist ihre malerische Präsenz.
Mit der bildfüllenden Darstellung von Wellen und Meeresbrandung greift Scharnefsky ein Konzept auf, das William Turner, Gustave Courbet oder Emil Nolde zu berühmt gewordenen Landschaftsbildern geführt hat. In der Titelgebung Nolde folgend, zeigt sein „Herbstmeer“ (Öl auf Leinwand, 2013) den Blick auf die wildbewegte Meeresoberfläche, über der sich ein dramatischer Himmel wölbt. Am Rand der Gegenstandslosigkeit angesiedelt, räumt der Künstler hier der Farbe wieder einen eigenständigen Bildwert ein, hinter dem die Motivschilderung zurücktritt. Im Zusammenspiel mit Wolken und Wasser entfaltet das Licht jetzt erst seinen ganzen Reichtum und seine Kraft („Kleines nächtliches Seestück“, Acryl/Leinwand, 2014; „Abendstimmung“, Öl auf Leinwand, 2016). In dem hohen Abstraktionsgrad seiner Ostseebilder finden die Stimmung eines Natureindrucks und die Wertigkeiten der Farben mit ihrer unterschiedlichen Strahlkraft ihren konzentriertesten Ausdruck: Variabilität, Bewegung, Auflösung und Vermischung. Es kommt dem Betrachter vor, als befinde er sich selbst im Meer, als sei er ein Teil der wirbelnden Bewegung („Große Brandung“, Öl auf Leinwand, 2013; „Tosende See“, Öl auf Leinwand, 2014). Indem der Künstler den Betrachter in das Bildgeschehen einbezieht, ist die sichere Distanz geschwunden, der Betrachter wird selbst der Grenzen- und Formlosigkeit der Elemente und damit seiner eigenen Gefühle ausgesetzt. Die Dimension der Bedrängung wird durch die Entfesselung der Gewalten auf See ins Bild gehoben. Diese Malerei hat zwar alles, was den Impressionismus auszeichnet – Licht, Luft, Bewegung und Feuchtigkeit der Atmosphäre –, doch ist die Wucht der Pinselhiebe ein Seismograf für die Seelenstimmung des Künstlers geworden. Die Gewalt des anbrandenden Meeres und der bis zum Himmel sprühenden Gischt hat eine expressive Steigerung erfahren.
Sagen wir es mal ganz anders: Scharnefskys Bilder sind Zustände von Dingen und Erscheinungen in einem zugespitzten Stadium wechselseitiger Bedingtheit, poetische Metaphern für fließende Übergänge. In ihnen werden Vorgänge der sinnlichen Wahrnehmung, der abtastenden Annäherung, der Sinnes-Eindrücke durch das Medium eines flüssigen und erstarrenden Materials dingfest gemacht. Aus der Berührung des Flüssigen mit dem Festen, des Formbaren mit dem Erstarrten entstehen selbstständige Objekte: Gestaltung und Auflösung, Auflösung und Vermischung, Bewegung und Erstarrung, Fließen und Gerinnen. Ein Hinweis darauf, dass Formbildung eben auch mit Aggregatzuständen zusammenhängt.
Volker Scharnefsky: Landschaften. Galerie der Berliner Graphikpresse, Silvio-Meier-Str. 6, 10247 Berlin-Friedrichshain, Mi–Fr 13–19 Uhr, Sa 11–15 Uhr, bis 29. September 2017.
Schlagwörter: Klaus Hammer, Malerei, Volker Scharnefsky