20. Jahrgang | Nummer 17 | 14. August 2017

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal der Ort, wo Klein-Hanns zur Brust genommen wird, Wiener Sterne und eine Pulle Scotch …

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Dass in der Leipziger Hofmeisterstraße Nummer 14 einer der wichtigsten Komponisten Neuer Musik geboren wurde, wissen bislang nur Eingeweihte. Doch das dürfte sich ändern. Just am 119. Geburtstag von Hanns Eisler, es war der 6. Juli, wurde von lokalen Honoratioren neben besagtem Hausnummernschild eine Gedenktafel enthüllt: „Der Komponist Hanns Eisler wurde in diesem Haus geboren. Er war Schüler von Arnold Schönberg und enger Arbeitspartner von Bertolt Brecht.“ Des Weiteren wird stichwortartig gelistet, was Eisler alles komponiert hat, unter anderem die DDR-Nationalhymne, die musikalisch dem berühmten Haydn-Quartett nicht nachsteht; dafür steht der Fallersleben-Text des „Deutschlandlieds“ weit unter dem der DDR-Hymne „Auferstanden aus Ruinen“ von Johannes R. Becher.
Kettenraucher Eisler war auch in schwierigen Zeiten bekennender Kommunist und für manche ein „Karl Marx der Musik“ – wohl auch wegen seiner bedeutenden Leistungen als Musiktheoretiker. Dass er von der DDR-Kulturpolitik zwar sozial privilegiert, politisch aber nach Kräften angefeindet und bis hin zu Aufführungsverboten gemaßregelt wurde, steht freilich nicht auf der Tafel stolzer Erinnerung, die nun endlich – neben Bach, Richard Wagner und Felix Mendelssohn-Bartholdy – auch Eisler einbezieht ins offizielle Gedenken der Messestadt an ihre großen Musikersöhne.
Dabei können wir froh sein, dass das Mietshaus in der Hofmeisterstraße überhaupt noch steht. Zwar hat es den Weltkrieg halbwegs überlebt, doch danach zerfiel es und stand kurz vorm Abriss, weil die Stadt die Schnapsidee hatte, ausgerechnet dort ein Hirschgehege zu installieren. Nun hat ein Investor saniert, und die bis vor kurzem noch unberühmt marode Wohnung, wo Eislers Wiege wackelte, ging für gutes Geld in kommunalen Besitz. Sie dient jetzt als Gedenk-und vor allem Diskussionsort („Plattform“); zudem bietet sie Unterkunft für Stipendiaten der Komponistenausbildung. Übrigens: Eisler (1898–1962) wurde hier, im großelterlichen Domizil mütterlicherseits (der Opa war Fleischer) nur geboren. Wurde also kein Sachse, denn Mama Marie zog alsbald mit dem Baby nach Wien. Nach der Flucht aus Nazi-Berlin und Emigration (USA, Mexiko) kam H.E. 1949 zurück nach Berlin (Ost), behielt jedoch – wie sein Freund Brecht – die österreichische Staatsbürgerschaft.

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Was für eine tolle Sache: Der Weg zwischen „Theater an der Wien“ bis Stephansdom, also von der Linken Wienzeile durch den Ringstraßen-Fußgängertunnel hindurch und vorbei an der Oper, die Kärntnerstraße entlang bis zum Dom, das ist die „Musikmeile Wien“, denn in den Boden eingelassene sind mehr als hundert Sterne mit den Geburts- und Sterbedaten sowie dem Autogramm weltberühmter Sänger und Komponisten aller Zeiten. 720.000 Euro kostete das vor Jahrzehnten angelegte Projekt der Vereinigten Bühnen und der Stadt Wien. Doch alsbald wird dieser spektakuläre Walk of Fame verschwunden sein. Viele Sterne sind verdreckt, manche kaputt. Nur einen zu erneuern kostet fünf- bis sechstausend Euro, die gesamte Meile aufzufrischen etwa eine viertel Million. Das Geld ist nicht aufzutreiben – und das in dieser für ihre Musikbegeisterung so berühmten Stadt. Also werden jetzt nach und nach die 400 Kilo schweren Bodendenkmale entfernt und eingelagert. Letzteres kostet nur 100,00 Euro pro Jahr – für alle Sterne.

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Das Etablissement spielt ein bisschen Versteck, und doch ist es längst keine Geheimadresse mehr im Dickicht des hauptstädtischen Unterhaltungsbetriebs – also fast immer rappelvoll. Ich sag mal hingerissen: Das „Chamäleon“ in einem Obergeschoss der Hackeschen Höfe in Berlins Mitte zwischen Alexanderplatz und Friedrichstraße ist ein köstliches Praliné. Kein Pomp, dafür lässige Eleganz, nicht allzu groß, aber luftig und frei von plüschiger Bar-Intimität.
Der Laden war einst, am Ende der Kaiserzeit, ein volkstümliches Etablissement zum Schwofen. Später versank es ins Vergessen, wurde profan genutzt als Lagerhalle und erst nach 1990 von poetisch inspirierten Investoren und taffen Geschäftsführern wieder erweckt zum Vergnügungsort mit sorgsam restaurierten Jugendstil-Goldresten.
Doch was heißt „Vergnügen“: Das seit zwei Jahrzehnten erfolgreiche Konzept heißt Neuer Zirkus. Wer es noch nicht weiß, „NZ“ ist eine Mischung aus klassischen Körper-Kunststücken wie früher untern Kuppelzelt sowie Comedy und Clownerie. Dazu eine Prise grotesk-melancholisches Schauspieltheater, zeitgenössisches Tanztheater, Slapstick-Show und viel Musik. Cirque dé Soleil oder André Heller lassen grüßen. Also kein Bombast, dafür eine neue Einfachheit, trotzdem nicht ohne Raffinesse. Denn alles kommt elegant daher mit Witz, Charme und vor allem: Perfektion. Da braucht es keinen monströsen Technikzauber und keine Tierhaltung. Der tollkühne, liebenswerte, wahnsinnige Mensch macht alles! Menschentheater ganz einfach, anrührend und im fliegenden Wechsel zwischen irre, rasend, wundersam, grotesk oder auch gelegentlich ein klein bisschen traurig.
Das „Chamäleon“ – wie auch der konkurrierende „Wintergarten“ in der Potsdamer Straße – darf sich rühmen, diese nun inzwischen auch nicht mehr ganz neue Art Zirkus-Varieté-Showperformance in Berlin heimisch gemacht und dafür prädestinierten Truppen ein Podium geboten zu haben; zuletzt den gefeierten Künstlerkollektiven aus Tschechien („Cirk La Pytka“) und Schweden („Cirkus Corkör“). Jetzt jedoch tobt die australische „Company 2“ mit ihrem Programm „Scotch & Soda“ im „Chamäleon“. Und das Publikum schäumt vor Glück. Ich schäume auch.
Da kommen 20 Musikinstrumente zum Einsatz, ok. Doch die meisterlichen Instrumentalisten machen – kollektiv oder solistisch – immer wieder auch noch gemeinsame Sache mit den Akrobaten. Jazzige Musiken verschmelzen mit akrobatisch-klassischen Attraktionen. Sozusagen ein Artistik-Jazz-Scherz-Konzert. Hat man so noch nicht erlebt.
Dabei gibt es noch eine (letztlich gar nicht soo wichtige) Grundidee: In nostalgisch beschworenen Zeiten der US-Prohibition tobt eine alkoholisierte Künstlerbande durch ein heimliches Suffloch – Scotch! Die Idee hat den Vorteil, dass die Akteure in allen ihren Nummern (oder eigentlich Szenen) stets wie ein bisschen neben oder über oder auch unter sich stehen dürfen – der Whiskey. Und dazwischen als retardierendes Moment – das Soda – intime Soli der Musiker. Das sind die fein zurückhaltenden Momente (kluge Dramaturgie!) der ansonsten frech, britisch-deftig (obwohl Australier!) und gelegentlich herrlich albern sexy tobenden Show aus virtuos Jazzigem mit Abstechern ins Rockige und extrem Gelenkigen.
Seltsam: Man hat das alles im Einzelnen mittlerweile schon irgendwo gesehen. Doch das herrlich komische, trotz Scotch frappierend elegante, von den innehaltenden Momenten abgesehen atemberaubend schnelle Zusammenspiel (Presto, Presto!) sah man so noch nie. Wow! Das ist‘s. Das eben ist der Neue Zirkus, locker aus der Hand geschüttelt, aus dem Boden gewuchtet oder durch die Luft geschleudert, dazu Klavier, Cello, Bass, Drums, Sax, Trompete et cetera und aus allem noch mal einen bloß hübschen, mal abgründig bösen Ulk gemacht. Muskelkraft plus Köpfchen.
Die Regie des kunstvollen miteinander Juxens und Tollens haben die vom klassischen Ballett kommende Chelsea McGuffinaus sowie Mister David Carberry von Australiens Flying Fruit Fly Circus School. Ein cooler Triumph des prallen Lebens, der Liebe zum Leben. Man muss sie einfach mögen, diese „Company 2“ von der entgegengesetzten Welthalbkugel. Fühlen, Lachen, Staunen – hier wie dort (in Australien). Ach, wie schön.