20. Jahrgang | Nummer 18 | 28. August 2017

Der doppelte Lenz

von Ulrich Kaufmann

In der Intendanz Christian Holtzhauers widmet sich das Weimarer Kunstfest 2017 vorwiegend dem Jubiläum der Russischen Revolution und ihren Folgen. Eine der Ausnahmen bildet das Projekt „Camera obscura : : Lenz – Eine szenische Installation für je einen Zuschauer“. Diese Performance – in Kooperation mit dem Jenaer Theaterhaus entstanden – ist nur am Weimarer Originalschauplatz denkbar. Hierhin folgte Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792) seinem Freund Goethe an den Hof, wo er letztlich auf ganzer Linie scheiterte. Der Titel des Theaterabends verweist auf ein schwarzes Loch, auf eine Lochkamera, die die Eigenschaft hat, Bilder auf dem Kopf abzubilden.
Ausgangspunkt des Abends ist „Lenzens Gartenhaus“, eine an eine uralte Kamera erinnernde Holzhütte. Es handelt sich – wie der Untertitel andeutet – nicht um einen herkömmlichen Theaterabend, um ein Gemeinschaftserlebnis. Jeder Besucher, ausgerüstet mit festem Schuhwerk, Taschenlampe und Kopfhörern, wird – zeitversetzt – Lothar Kittsteins Text ausgesetzt. Der einstündige Alleingang beginnt im Ilmpark, führt über die Altstadt zum Hotel „Elephant“. (Lenzens Weimarer Quartier war 1776 die nicht mehr existierende Poststation „Erbprinz“, das vormalige Nachbarhaus des „Elephanten“.)
Das Erstaunliche an Kittsteins heutigem Text ist, dass er nirgends Jakob Lenz (oder Büchners „Lenz“) zitiert und dennoch Lenzens verzweifelte Situation im Residenzstädtchen an der Ilm großartig erfasst. Es bleibt die Frage, ob nicht Lenz (bei dem man oft lediglich dessen Leben betrachtet) in seinen Gedichten oder Briefen genug Material liefert, um es im heutigen Text zu verweben. Kittstein zeigt Lenz als doppelt Gescheiterten: am Hof auf den „Spaßvogel“ reduziert und in der Liebe immer wieder scheiternd.
In dem Projekt des Regisseurs Bernhard Mikeska und der Dramaturgin Alexandra Althoff agieren alternierend die Schauspieler Sophie Hutter (vom Jenaer Theaterhaus) und Thomas Kramer. Beide sind gleich zu Beginn in einem Kurzfilm zu erleben. Der Besucher wird energisch in die Box einbestellt und erlebt dort die Mimen in Alltagsszenen: beim An- und Ausziehen, beim Duschen, Rasieren und Zähneputzen. Beide Darsteller sind in festlicher, männlicher Robe zu sehen. Bereiten sie sich zum Tanzen vor? Am Ende erscheint ein Käfer, kurz danach macht sich ein ganzer Käferschwarm auf der Kleidung breit. Mann und Frau, die für Lenz stehen, sind beziehungsunfähig, nicht ein Wort fällt. Isolation herrscht, Wahnsinn deutet sich an. Energisch wirst „Du“ (!) aufgefordert, das kleine Zimmer zu verlassen. Nun folgst du den Empfehlungen des Sprechers. Der Text ist gleichermaßen wegorientierend und das natürliche wie städtische Umfeld skizzierend. Vor allem jedoch zeigt er, in welch’ schrecklicher Situation der verlorene Lenz steckt, auf den niemand wartet. Durch die suggestive Du-Anrede begreift der Gehende zunehmend, dass auch er Lenz ist. Der Weg führt ihn um das gesamte Schloss und die große Kirche herum. (Dass das Schloss bereits 1775 abgebrannt war und es sich hier um die „Herderkirche“ handelt, spielt keine Rolle.) Lenz, Sohn eines Pfarrers und studierter Theologe, wollte Goethe an den Hof folgen. Er muss erleiden, wie sich sein Straßburger Dichterfreund energisch von ihm abwendet. Vor dem Schloss haltend, begreift Lenz / der Besucher, dass ihn niemand gerufen hat, dass er ein streunender Hund ist, den keiner braucht. Wenig später wird Lenz / der Theaterbesucher mit einer verfolgten Ratte verglichen, die sich nicht umzudrehen habe.
Die Pointe des Abends: Der getriebene Lenz trifft in einem Zimmer des „Elephanten“ auf den dort wartenden Lenz. Der liegt blutverschmiert im Badezimmer, verspricht aber gleich zu kommen. Er wolle, sagt der Verstörte, nun zum Tanz gehen. Der verwirrte Besuchte und der überraschte Besuchende versuchen einen Dialog. Der Mime (an diesen Minuten war es Thomas Kramer, anschließend hätte man Sophie Hutter erleben können) gibt einen sympathischen, völlig zerrütteten Lenz. Er reagiert auf den verdutzten Besucher, dabei an Sentenzen aus Kittsteins Text erinnernd. Die Mimen schaffen zu Beginn und am Schluss einen verwirrend schönen Rahmen, Hauptakteur ist gewissermaßen der Besucher.
Wie in einem modernen Drama reden der anwesende und der dazugekommene Lenz aneinander vorbei. Kramer / Hutter bieten Erstaunliches, wenn man sich vorstellt, dass sie an einem Abend im Takt von 15 Minuten auf mehrere Dutzend Neugierige treffen.
Der Rezensent kann nur sein Erleben schildern, nicht wissend, wie andere Besucher, die viel, wenig oder gar nichts von Lenz wissen, auf das originelle Angebot, das durch zwei Darsteller zudem ein Doppeltes ist, reagieren.
Ältere Kulturbürger werden sich erinnern, dass es bei Kunstfesten in den neunziger Jahren, unter der Ägide Bernd Kauffmanns, schon tolle Ideen gab, mit Lenzens Leben und Werk umzugehen. Genannt sei stellvertretend die Lenz-Trilogie im Römischen Haus (1994). Federführend waren damals Manfred Karge und der heutige Starregisseur Thomas Ostermeier. Zu loben ist, dass solche, durch Fördermittel gestützte Experimente junger Theatermacher mit der Uraufführung am 19. August eine bewegende Fortsetzung fanden.