20. Jahrgang | Nummer 15 | 17. Juli 2017

Erlesenes – Landauers „Revolution“ und Geschichte aus dem Orient

von Wolfgang Brauer

Zwischen 1906 und 1912 gab Martin Buber bei Rütten & Loening in Frankfurt am Main – er war dort Cheflektor – die insgesamt 40 Bände umfassende Buchreihe „Die Gesellschaft“ heraus. Buber hatte auch seinen Freund Gustav Landauer um einen Beitrag, genauer gesagt um einen Essay zum Thema „Revolution“ gebeten. Das war ein äußerst aktuelles Thema, auch wenn im Kaiserreich von revolutionärer Stimmung wenig zu spüren war. Die soziale Frage stellte sich trotz der Bismarckschen Entschärfungsversuche und dem beeindruckenden Aufschwung der deutschen Wirtschaft mit zunehmender Brisanz. Auch wenn die Sozialdemokraten ihr linkes Seelenheil immer deutlicher erkennbar in der Gewinnung von Parlamentsmehrheiten sahen – die deutsche Arbeiterschaft und die Intellektuellen des Reiches blickten mit gespanntem Interesse auf die Geschehnisse in Russland. Das Scheitern der 1905er Revolution war zwar kaum noch zu übersehen, aber es war aufmerksamen Beobachtern klar, dass das nur ein „Zwischenspiel“ gewesen war. Landauer – der sich als Theoretiker eines kommunitären Anarchismus und Kritiker der zunehmend dogmatischer ausgerichteten Politik der Parteien der II. Internationale einen Namen gemacht hatte – legte 1907 mit seiner Schrift „Die Revolution“ nicht mehr und nicht weniger als eine „grundlegende Geschichtsphilosophie des Anarchismus“ (Siegbert Wolf) vor. Wolf gab die Schrift jetzt im Rahmen der von ihm bei der Edition AV betreuten „Ausgewählten Schriften“ Landauers als 13. Band heraus.
Gustav Landauer, ein profunder Kenner der Geschichte der europäischen politischen Revolutionen, sah in diesen Ereignissen seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts einen einzigen revolutionären Prozess, der sich ihm als Aufhebung der gesellschaftlichen Zustände eines von ihm durchaus verklärten Mittelalters darstellte. Letzteres war nicht besonders kühn. Der Herausgeber verortet ihn hier nicht ganz unberechtigt in der Nähe des Frühromantikers Friedrich von Hardenberg, der unter dem Pseudonym Novalis 1799 seine Schrift „Die Christenheit oder Europa“ verfasste. Landauer sieht diesen andauernden „nach vorne offenen“ Prozess allerdings nicht als linearen Fortschritt an. Er registriert als bislang etablierte Ergebnisse nur die „absolute Fürstengewalt, absolute Gesetzlichkeit und Nationalismus“. Nach seinem Verständnis reiche die Aufhebung der bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse durch eine politische Revolution bei weitem nicht aus, um einer menschlicheren Gesellschaft nachhaltig zum Durchbruch zu verhelfen. Nötig sei eine soziale Revolution, die allerdings nur als eine von langer Dauer zu haben sei. Landauer beruft sich bei seinen Überlegungen unter anderem auf Proudhon und meint, „daß die soziale Revolution mit der politischen gar keine Ähnlichkeit hat, daß sie allerdings ohne vielerlei politische Revolution nicht lebendig werden und bleiben kann, daß sie aber ein friedlicher Aufbau, ein Organisieren aus neuem Geiste und zu neuem Geist und nichts weiter ist.“
Bertolt Brecht hat das alles lakonischer als „Mühen der Ebene“ bezeichnet. Genau an denen ist der „reale Sozialismus“ des 20. Jahrhunderts gescheitert. Es gibt gute Gründe, den geschichtsphilosophischen Entwurf Landauers sehr ernst zu nehmen.
Wenn er Recht hat, dass „die Revolution“ sich als immerwährender Prozess darstellt, der mitnichten beendet ist, solange die Ursachen zu nur schwer vorhersagbaren Eruptionen politischer Revolutionen nicht beseitigt sind, dann muss man auch sein Fazit ernst nehmen, „daß unser Weg nicht über die Richtungen und Kämpfe des Tages führt. Sondern über Unbekanntes, Tiefbegrabenes und Plötzliches.“ Das bedeutet auch, dass sich revolutionäre Bewegungen in ihrer Theoriebildung dem „Danach“, der Utopie, zu stellen haben. Bei der derzeitigen europäischen Linken in ihrer ganzen Breite sieht es damit äußerst trübe aus. Ein „Zu den Quellen!“ täte überaus Not. Landauers Schrift gehört unbedingt dazu. Denn: „Jeder Blick in die Vergangenheit oder Gegenwart menschlicher Gruppierungen ist ein Tun und Bauen in die Zukunft hinein“ (Gustav Landauer).

Gustav Landauer: Die Revolution. Textkritische Ausgabe der Erstauflage, Verlag Edition AV, Lich / Hessen 2017, 192 Seiten, 18,00 Euro.

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Einen ungewöhnlichen Blick in die für europäische Leser oftmals schwer verständliche Gegenwart einer Region, die von ihrer Vergangenheit schier erdrückt zu werden scheint, bietet Sharam Qawami. Der iranisch-kurdische Autor legte im Frühjahr im kleinen thüringischen Verlag Tasten & Typen seinen ersten auf Deutsch geschriebenen Roman „Brücke des Tanzes“ vor. Qawami, geboren 1974, floh 2010 aus dem Iran. Als Kind erlebte er 1980 die brutale Niederschlagung des kurdischen Aufstandes in der Region Sena. Sowohl die erlebte Gewalt als auch das andauernde schwierige Ringen um die Erhaltung der eigenen Kultur in einer mental zwischen Spätantike und Moderne pendelnden Gesellschaft prägten diesen Autoren nachhaltig. Dazu kommen die Erfahrungen des Flüchtlings in einem Lande, in dem die Tiere mehr geliebt werden als die Fremden, wie er sein alter ego an einer Stelle des Buches über Deutschland sagen lässt.
Zu Beginn eines schier endlos langen Gespräches, das den Kern dieses ungewöhnlichen Romans ausmacht, bekennt Soraw seiner Freundin Kirsten gegenüber, dass er erst am Tage des Todes seines Freundes Issa die Wahrheit begriffen habe. Issa war Kommandant der Einheit, in der Soraw während des ersten Golfkrieges kämpfte. Soraw, von der Teheraner Regierung verfolgter Kurde, lebt seit langer Zeit in Deutschland und will Kirsten, die ein Kind von ihm erwartet, nun endlich seine wirkliche, die „kulturelle Identität“ erklären. Er versucht dies über ein Bündel von Geschichten und Reflexionen, die den Rezensenten zutiefst anrührten: die Geschichte des Derwischs, der am Grab des Sohnes hauste; die Geschichte des Jungen, der die Tante der gesellschaftlichen Ächtung auslieferte; die Erzählung des Folterknechtes. Vor allem Letztere treibt in ihrer gnadenlosen Offenheit jedes Fünkchen von Exotismus aus, der europäische Leser wohl immer zu befallen droht, wenn der Orient in unserer Literaturlandschaft zum Thema wird. Die darauf folgenden Exkurse in die philosophischen Welten Platons und des Aristoteles, das Nachdenken über die Motivik der Scheherezade führen nur scheinbar vom Thema weg – wiewohl hier eine Straffung dem Roman gut getan hätte. Letztendlich geht es Qawami immer wieder um die Frage, was denn nun die Wahrheit, mehr noch „die ewige Wahrheit“ ausmache. Die Antwort muss auch bei ihm offen bleiben. Sharam, der im zweiten Teil des Romans als Dritter im Bunde am Gespräch zwischen Soraw und Kirsten teilnimmt, zitiert den persischen Sufi-Mystiker und Dichter Maulana Rumi (1207-1273): „Die Wahrheit war ein Spiegel, der eines Tages vom Himmel gefallen ist. Er zerbrach in unzählige Stücke und jeder von uns kann nur ein kleines Stück davon haben.“ Eines dieser Stücke ist der Roman Sharam Qawamis. Heben Sie es auf…

Sharam Qawami: Brücke des Tanzes. Roman, Verlag Tasten & Typen, Tabarz 2017, 208 Seiten, 9,95 Euro.

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In den Tiefenschichten orientalischer Geschichte verborgen liegt das südarabische Königreich Hadramaut, durch dessen Ruinenhauptstadt Shabwa (Schabwat) nur noch der Wüstenwind pfeift. Shabwa muss einst unermesslich reich gewesen sein. Hier begann die legendäre Weihrauchstraße, das Harz des seltenen Weihrauchbaumes (Boswellia sacra) ist unverzichtbar für Mysterienkulte aller Art von der Pharaonenzeit bis zum heutigen Tage. Über die Weihrauchstraße wurden auch jahrhundertelang die teuren Gewürze Indiens, Diamanten und Perlen, Gold und Elfenbein aus Afrika transportiert. Aus gutem Grund gehörte dieser Handelsweg daher – egal, wer das betreffende Gebiet gerade beherrschte – zu den am schärfsten bewachten Handelsrouten der Welt. Neugierige Fremde wurden bis in das 20. Jahrhundert hinein dort nicht geduldet. Dass die Gegend heute wieder zu den gefährlichsten des Erdballs gehört, hat allerdings weniger mit dem Weihrauch zu tun. Anfang 1935 machte sich Freya Stark, wohl eine der außergewöhnlichsten Reiseschriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts auf den Weg nach Shaba. Die 1893 geborene Engländerin wurde als Autorin schlagartig berühmt, nachdem sie 1930 die noch unerforschten Täler der persischen Assassinen bereist hatte. Dieser Bericht erschien im Deutschen unter dem etwas dümmlich-reißerischen Titel „Im Tal der Mörder“. Starks Reisebericht über ihre Entdeckungsfahrt von Aden nach Shaba ist allerdings unter ihren zahlreichen Büchern etwas Besonderes: Er wurde zum Bestseller, obwohl die Autorin ihr Ziel nie erreicht hat und mit einem Flugzeug der Royal Air Force von Shibam nach Aden zurückgebracht werden musste. Sie litt schon zu Reisebeginn unter Dysenterie, unterwegs kamen die Masern dazu. Gleichwohl ist der mit großer Sachkenntnis verfasste Bericht ihres Scheiterns wohl einer der farbigsten und leidenschaftlichsten, die jemals über den Süden der arabischen Halbinsel geschrieben wurden. Er verlockt den Leser, es der Dame Stark – sie wurde 1972 von der Queen geadelt – nachzutun. Aber wir nehmen die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes in diesem Falle besser ernst und folgen Freya Stark desto freudiger bei der Lektüre dieses Ausnahme-Buches. Susanne Gretter danken wir für die Aufnahme des Bandes in ihre spannende Reihe „Die kühne Reisende“ der Edition Erdmann.

Freya Stark: Auf der Weihrauchstraße. Eine Reise durch das südliche Arabien, Edition Erdmann, Wiesbaden 2017, 382 Seiten, 24,00 Euro.