von Mathias Iven
Es gibt, wie Volker Michels urteilt und auch der Rezensent ohne Einschränkungen betont, bisher keine tiefergehende und detailliertere, ausschließlich an den Quellen ausgerichtete Darstellung von Hermann Hesses Leben in den Jahren zwischen 1916 und 1920. Präsentiert wird sie von Jürgen Below, der mit seiner fünf Bände umfassenden Hesse-Bibliographie und dem von ihm herausgegebenen Hesse-Handbuch bereits zuvor wichtige Forschungsbeiträge geleistet hat.
Im Frühjahr 1916 spürte Hesse die Vorzeichen einer sich anbahnenden schwierigen Zeit. Seiner Schriftstellerkollegin Helene Welti gestand er: „Bei mir ist auch eine Krisis im Werden, wobei freilich das Körperliche nur eine nebensächliche, wenn auch symbolische Bedeutung hat.“ Wohin, so fragte er sich, würde ihn sein Weg führen: „vielleicht in die ,Welt‘ zurück, vielleicht in noch engere Einsamkeit und Selbstbeschränkung“? – Drei Dinge bestimmten die Jahre bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, die Below zu Beginn seines Buches in den Blick nimmt. Einerseits waren das die psychoanalytischen Sitzungen bei Dr. Josef Bernhard Lang, in deren Zusammenhang Hesse nicht nur ein „Traumtagebuch“ führte, das seinen literarischen Niederschlag im 1917 erschienenen Roman „Demian“ fand. Vor allem sollte er die Malerei als neue künstlerische Ausdrucksform für sich entdecken. Andererseits kann Below auf der Grundlage bisher ungedruckter Quellen zeigen, welchen Einfluss Hesses Besuche in der Pension Neugeboren in Locarno – im Umfeld der von ihm bereits 1906 besuchten Künstlerkolonie des Monte Verità – hatten. Und schließlich wird der Kontakt zu Johannes Nohl beleuchtet, der als sogenannter Laienanalytiker in Bern und Ascona zeitweise eine Praxis betrieb und in dessen Obhut sich Hesse begab. Als Nohl in seine Behandlung allerdings Hesses Frau Mia einbezog, kam es zu einem „therapeutischen Desaster“, das nicht nur negative Folgen für das Verhältnis zwischen den Ehepartnern hatte, sondern vor allem dem Gesundheitszustand von Mia abträglich war.
Der mit Hesse befreundete Maler Hans Sturzenegger erhielt im Dezember 1918 die Mitteilung: „Meine Ehe ist zerstört, meine Frau gemütskrank, die Kinder fort, dazu Geldsorgen und das Elend in meiner Heimat. Ich kämpfe, um aufrecht zu bleiben.“ Und im „Kurzgefaßten Lebenslauf“ wird ein paar Jahre später zu lesen sein: „Mit dem Ende des Krieges fiel auch die Vollendung meiner Wandlung und die Höhe der Prüfungsleiden zusammen. […] Ich war ganz in mich selbst und ins eigene Schicksal versunken, allerdings zuweilen mit dem Gefühl, es handle sich dabei um alles Menschenlos überhaupt.“
Aufschlussreich für diese Zeit ist auch der Briefwechsel mit dem Juristen Johann Wilhelm Muehlon. Als diesem im Februar 1919 das Amt des Bayerischen Ministerpräsidenten angetragen wurde, bot er seinerseits Hesse eine Mitwirkung in der Regierung an. Dieser war nicht nur erschrocken über das Angebot und die falsche Vorstellung, die man sich von seiner Person machte: „Die Verlockung, jetzt nach Deutschland zu gehen und im allgemeinen Elend und Betrieb mit unterzugehen, verspüre ich wohl, sehe aber nur eine Abart von Selbstmordgedanken darin. Meine Natur treibt ganz woanders hin.“
Der umfangreichste Teil des Buches zeigt, wohin es Hesse im Frühjahr 1919 trieb. Im schweizerischen Montagnola fand er ein neues Zuhause. Was seine zukünftige literarische Arbeit anging, so hatte Hesse klare Vorstellungen. Hermann Missenharter, der ihn für eine Mitarbeit an der neugegründeten Monatsschrift „Der Schwäbische Bund“ gewinnen wollte, erhielt dahingehend eine unmissverständliche Absage: „Nein, das Schreiben auf Befehl und zu einem bestimmten Datum will ich nie wieder anfangen, und auch nicht, wenn Ihr mich verhungern lasset.“
Trotz aller Widrigkeiten wurden die kommenden Monate „zu einem außerordentlichen und einmaligen Erlebnis“ für Hesse. „Atmosphäre, Klima und Sprache des Südens“ verhalfen ihm zu neuer Produktivität, und schon bald ging er mit Ruth Wenger, seiner zukünftigen zweiten Frau, eine neue Beziehung ein. Über all dem stand jedoch die Sorge um Mia und seine Söhne. Auf der Grundlage bisher unveröffentlichter Korrespondenzen aus dem von Volker Michels aufgebauten Hesse-Editionsarchiv und dem Marbacher Literaturarchiv werden die damit einhergehenden Umstände von Below erstmals ausführlich rekonstruiert.
Ende 1919 war Hesses Zukunft weiterhin ungewiss. In aller Bescheidenheit hieß es in einem seiner Briefe: „Ein Dach über sich zu haben und Papier zum Schreiben, dann ist das Leben schön.“ – – – Bleibt am Schluss die Frage, die auch von Below nicht beantwortet werden kann: Wie wäre Hermann Hesses schriftstellerische Entwicklung ohne diese Zäsur verlaufen?
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Wer sich speziell für die in den Krisenjahren entstandenen graphischen Arbeiten von Hermann Hesse beziehungsweise für Illustrationen zu seinem Werk interessiert, dem sei die derzeit laufende Ausstellung im Hesse Museum Gaienhofen empfohlen. Noch bis zum 3. September wird dort unter dem Titel „Klingsor sah Töne, hörte Farben“ die Entstehungsgeschichte zweier bibliophiler Ausgaben von Hesses im Sommer 1919 entstandener Novelle „Klingsors letzter Sommer“ dokumentiert.
Zum einen handelt es sich dabei um den 1977 im Zürcher Orell Füssli Verlag veröffentlichten, von Hesses Sohn Heiner initiierten Band, der neben dem Text der Novelle die zeitgleich entstandenen Aquarelle Hermann Hesses enthält. Zum anderen werden die 1940 am Schauplatz der Handlung entstandenen Zeichnungen von Gunter Böhmer gezeigt, die dieser im Auftrag des Frankfurter Mäzens Georg Hartmann schuf und die erstmals im Jahre 2000 im Rahmen einer Prachtausgabe des Suhrkamp Verlages einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt wurden.
Doch in der Ausstellung geht es nicht allein um die Bilder von Hesse und Böhmer. Gezeigt werden zudem Arbeiten von Hesses Künstlerfreunden Louis Moilliet, Anny Bodmer, Margherita Osswald-Toppi und Jean Lurçat. Hinzu kommen Korrespondenzen, Fotografien und Schriften aus diesem Personenkreis, die in ihrer Gesamtschau einen erweiterten Zugang zu Hesses Novelle eröffnen.
Zum Weiterlesen sei auf das von Ute Hübner und Roland Stark herausgegebene Begleitheft verwiesen. Hier findet sich in knapper Form nicht nur die mustergültig aufgearbeitete Editionsgeschichte der beiden erwähnten Klingsor-Ausgaben. Interessant und aufschlussreich ist vor allem – selbst wenn Restzweifel bei der Identifizierung bleiben – die Zusammenstellung der realen Vorbilder derjenigen Personen, die im „Klingsor“ eine Rolle spielen.
Jürgen Below (Herausgeber): Hermann Hesse: Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Eine dokumentarische Recherche der Krisenjahre 1916–1920, Igel Verlag, Hamburg 2017, 263 Seiten, 24,90 Euro.
Ute Hübner (Herausgeber): Klingsor sah Töne, hörte Farben. Hermann Hesses Novelle „Klingsors letzter Sommer“. Beiträge des Hesse Museum Gaienhofen, 2017, 64 Seiten, 10,00 Euro. – Die gleichnamige Ausstellung kann in Gaienhofen noch bis zum 3. September 2017 täglich außer montags besucht werden.
Schlagwörter: Hermann Hesse, Hesse Museum Gaienhofen, Jürgen Below, Mathias Iven, Ute Hübner