von Erhard Weinholz
Chemie, man weiß es, bringt Brot, Wohlstand und Schönheit. Also wurde vor beinahe sechzig Jahren im mitteldeutschen Leuna als Perspektivplan für die DDR-Wirtschaft das Chemieprogramm verkündet. Erheblich ausbauen wollte man unter anderem das Elektrochemische Kombinat Bitterfeld (EKB), vormals Betrieb der I.G. Farben. Ich kannte Bitterfeld nur vom Umsteigen Richtung Halle oder Dessau: Von Schönheit keine Spur. Es gab sie aber, im Kulturpalast zum Beispiel, eröffnet 1954. Paläste konnten sich natürlich nur Großbetriebe leisten: 14.000 Mitarbeiter hatte das EKB in diesen Jahren, eine Giftbude ersten Ranges, unter anderem größter Hersteller von Chlorchemie im Lande. Bei der Ausstattung ging man damals in die Vollen, die Arbeiterschaft beerbte das Bürgertum. Vorbild war wohl das Zentralkulturhaus der Wismut-AG, fertiggestellt 1951: Eichenparkett, Möbel Nussbaum mahagoni anpoliert, Maria-Theresia-Lüster in Kristall, Säulenkapitäle stark vergoldet.
Daneben liefen bescheidenere Traditionen weiter. Ebenso wie die Firmen feierten die Arbeiter ihre Jubiläen – zwanzig, fünfundzwanzig, vierzig Jahre Betriebszugehörigkeit zeigten: Man hatte sich bewährt an seinem Platz. Das war auch im Interesse der staatlichen Leitung, und so war die Ehrung der Jubilare einbezogen ins betriebliche Geschehen. Es gab Urkunden und Prämien, in großen Firmen rückte der Betriebsfotograf an. Gut zwei Dutzend Bilder von solchen Feiern habe ich jetzt auf dem Trödelmarkt entdeckt, Teil einer etwas umfangreicheren Sammlung von Belegschaftsfotos, allesamt entstanden in eben diesem EKB im Jahrzehnt um 1960. Datiert sind sie nicht, und ihre Herkunft zeigt nur ein Stempel auf der Rückseite an.
Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich bei diesen Fotos zurechtgefunden habe. Sie schienen paarweise entstanden zu sein: Auf dem einen sind der Jubilar oder die Jubilare am Tisch sitzend mit ihren Geschenken zu sehen, auf dem anderen inmitten der Kollegen. Fotografiert wurde meist in einer der Werkhallen, oft vor Fahnentuch, manchmal auch in einem kleineren Saal oder draußen vorm Eingang. Einmal ist das Schild darüber mit im Bilde: Hauptlabor Werk – Nord. Chef dort war wohl der jüngere Mann, der auf dem Schreibtisch vor sich neben dem üblichen Zubehör, Stempel, Telefon, Tintenlöscher, ein paar Gläser mit Chemikalien zu stehen hat. Bei Feiern sitzt er mal neben den Jubilaren, mal vorn am Rande wie ein Schullehrer neben der Klasse. Als einer von wenigen trägt er das Parteiabzeichen – so jedenfalls deute ich den hellen Fleck am Revers. Das Bild eines sowjetischen Militärs hängt in seinem Büro, Erinnerung an die Zeit, da das EKB Wirtschaftsbetrieb der Besatzungsmacht war.
Überhaupt lohnt es sich, auf den Bildhintergrund zu achten: Ein Grotewohl- oder Ulbricht-Porträt sieht man da oft, Pieck ist sonderbarerweise nicht vertreten, Pappbuchstaben bilden Losungen wie „Plane mit, arbeite mit, regiere mit“ oder „Kunst ist Waffe“, und auf dem Rahmen einer Wandzeitung liest man: Brigade „Vorwärts“ im Kampf um den Titel „Brigade der sozialistischen Arbeit“. Erstmals aufgerufen wurde zum Titelkampf im August 1959.
Feiern waren ja immer ein Anlass, die Gläser aus dem Schrank zu holen. Manchmal stand eine Schnapsflasche gleich auf dem Geburtstagstisch – 66er zum Beispiel, wie ich mit der Lupe erkennen konnte, ein Weinbrand, der für die Zeit so typisch war wie später, für die Achtziger, der Goldbrand, allerdings mehr Umdrehungen hatte. Frauen bekamen keinen Schnaps, sondern Parfüm. Ansonsten gab es viel Nützliches, Besteckkästen, Staubsauger, Decken, einen Feldstecher. Oft geschenkt wurden auch Bücher – für mich die wichtigste Datierungshilfe. Wie sich der Wert der Geschenke zur Dauer der Betriebszugehörigkeit verhielt, konnte ich nicht erkennen. Auf alle Fälle stieg er erheblich mit der Ranghöhe der Jubilare. Da standen dann Präsentkörbe und Sekt auf dem Gabentisch oder drei Flaschen Weinbrand besserer Sorte, und aufgebaut wurde das alles nicht in den Hallen oder Büros, sondern im Kulturpalast.
Bekannt geworden ist dieser Palast damals durch eine kulturpolitische Konferenz: Die Kunst, so hieß es dort im April 1959, solle sich mit dem Volke verbinden, das Volk mit der Kunst. Gerade der so reich ausgestattete Bitterfelder Kulturpalast war der rechte Ort für solche Veranstaltung: Denn dass die Arbeiterklasse rechtmäßiger Erbe der fortschrittlichen Kulturleistungen des Bürgertums sei, gehörte zu den Grundgedanken des sogenannten Bitterfelder Weges. Personell abgesichert wurde dieser Kurs auf Arbeiterseite insbesondere durch die Brigaden der sozialistischen Arbeit; „Sozialistisch arbeiten, lernen, leben“ lautete die Parole, und Bitterfeld war der Ausgangspunkt dieser Bewegung. Gefragt war zum einen Qualitätsarbeit, früher deutsche Wertarbeit genannt – auch hier erwies sich die Arbeiterschaft, vielleicht nicht immer ganz freiwillig, als Erbe des Kapitals. Zweiter Schwerpunkt war die Kultur: Man besuchte Theater oder Ateliers, hörte Schriftstellern zu, diskutierte mit ihnen. So war es jedenfalls gedacht.
Die Fotos sind, wie schon gesagt, nicht datiert. Man kann aber anhand des Papiers so halbwegs die älteren von den jüngeren unterscheiden, und mir scheint, dass Mitte der 60er Jahre die Mienen alles in allem zufriedener waren als zuvor. Auf der Königsebene hielt derweil ein kampferprobter Kommunist, hartes Gesicht, die grauen Haare nach hinten gekämmt, unter Einsatz aller Kräfte den Betrieb am Laufen. Aufmerksam schauen die beiden Arbeiter an der Schmalseite seines Schreibtischs zu ihm hin. An der Wand hinter ihm hängt ein Plan der Werksanlagen. Doch weshalb steht kein Telefon auf seinem Schreibtisch? Weshalb trägt er kein Parteiabzeichen? Was das Bild wirklich zeigt, ist mir unklar geblieben.
Die sechziger Jahre waren vielleicht das spannendste, ertragreichste Jahrzehnt der DDR gewesen. Später ging Wachstum mehr und mehr mit Verflachung und Qualitätsverlust einher. So war es auch in der Brigadebewegung – den Bitterfelder Weg war man ohnehin nur ein paar Jahre gegangen. Und für Qualitätsarbeit fehlte es oft genug an Material und Gerät und schließlich auch an der Motivation. Gerade in der Chemieindustrie verschlechterte sich schließlich der Zustand der Anlagen derart, dass selbst die staatstreue Gewerkschaft Beschwerde einlegen musste. Vom Zustand der Umwelt braucht man wohl mit Blick auf Bitterfeld sowieso nichts mehr zu sagen. Man produzierte in der DDR zuletzt oft genug, als gebe es keine Zukunft mehr.
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