von Georg Rammer
Als Psychologe in der Kinder- und Jugendhilfe kam ich oft mit Eltern zusammen, die Prügelstrafe für eine sinnvolle Erziehungsmethode hielten. Genauer: Die sich keinen anderen Weg wussten, mit ihren Problemen und Gefühlen umzugehen. Meist ließen die Folgen nicht lange auf sich warten: Werden nämlich Kinder misshandelt, vernachlässigt oder mit ihren Gefühlen nicht akzeptiert, dann fühlen sie sich abgelehnt und reagieren mit Verhaltensauffälligkeiten. So wuchsen also die Probleme in der Familie, der Streit eskalierte, die Stimmung in der Familie war von Ärger und Verdruss geprägt. Die Eltern waren genervt, fühlten sich von den Kindern provoziert, die Strafen wurden drakonischer: ein Teufelskreis…
Und ein Beispiel für „lineares Denken“, wie es auch in der Politik vorherrscht. Dieses beherrscht das Feld insbesondere dann, wenn mächtige Gruppen oder Staaten anderen – in der Verfolgung eigener wirtschaftlicher und strategischer Interessen – ihren Willen aufzwingen wollen. Ein solches Denken ist unterkomplex, um nicht zu sagen primitiv, denn es lässt sämtliche Regeln menschlicher Kontakte außer Acht. Dazu gehört etwa die elementare Erfahrung, die bereits Babys verinnerlicht haben, dass die eigenen Äußerungen – Worte, Gesten, Mimik – im Gegenüber eine Reaktion auslösen, die wiederum in mir Gefühle hervorrufen und Reaktionen provozieren: ein Prozess von Rückkopplungen und Wechselwirkungen.
Diese Erkenntnis, Grundlage für Empathie und Mitmenschlichkeit, ist politischen Herrschern und Wirtschaftsbossen offensichtlich abhanden gekommen. In frühester Kindheit muss sie in ihnen noch verankert gewesen sein. Auch in Herrn Trump, Herrn Schäuble oder den Vorstandsvorsitzenden von Rüstungs-, Agrar-, Atom- und Autokonzernen. Jetzt versuchen sie aber Probleme zu lösen wie die emotional unreifen prügelnden Eltern. Alles ist steuerbar und kontrollierbar, mit Belohnung und Strafe, mit Gewalt und Kontrolle. Sie wollen und können nicht wahrhaben, dass sie mit ihren egoistischen Methoden (Trump: „All we do is win, win, win!“) Millionen von Menschen ins Unglück stürzen, Elend und ein wachsendes Chaos verursachen, das fast unweigerlich im Desaster endet. Militärische Interventionen, „unsere“ Kriege, sind das beste – oder schlimmste – Beispiel dafür, in Afghanistan, Libyen, Syrien, aber auch ausbeuterische „Freihandels“verträge und Investitionen.
Schauen wir uns den Irak an. Die USA überfielen das Land (natürlich in „bester Absicht“), um eine angeblich drohende Gefahr abzuwenden. Dass das eine Lüge war, hat fast schon keine Bedeutung. Denn die eigentliche Katastrophe besteht darin, dass die Wirkungen auf die dort lebenden Menschen total vernachlässigt wurden: Sie spielten in der Planung und in der immer unterkomplexen militärischen Strategie einfach keine Rolle. Im angegriffenen Land wurde alles zerstört, was den Menschen lieb und wichtig ist, ihre Familie, ihr Zuhause, ihre Würde, ihre Liebe. Es wurde entwertet, was sie aufgebaut haben, was ihnen vertraut und heilig ist. Die Herren des Krieges waren unfähig zu erkennen, dass sie Angreifer und Besatzer sind und als solche empfunden wurden. Umso mehr als sie sich genauso benahmen: Sie nahmen dem Land alles Kostbare weg, schrieben den Bauern vor, dass sie Saatgut nur noch von Konzernen beziehen dürfen und so weiter. Die irakischen Eltern – sofern sie noch leben – sahen und sehen ihre Kinder durch Uranmunition krank werden und manchmal sterben. Ihr Land versinkt in Krieg, Armut, Chaos und Erniedrigung.
Der Eskalation nächste Stufe folgt unweigerlich. Der Hass sucht sich Ziele und Opfer, der Terror durch Drohnen oder Anschläge kennt keine Gerechten mehr. Und immer mehr Länder werden davon ergriffen. Solche Konflikte wirken schier endlos fort. Wo war der Anfang der endlosen Nahostkrisen und -kriege? In der menschenverachtenden Kolonialzeit, in der unmenschlichen Sklaverei, in der Herrschaft der Imperien über die „Untermenschen“? Es gehört viel Zynismus dazu anzunehmen, dass die Erniedrigung und der Hass, der durch Krieg und Ausbeutung gezüchtet wurde, durch Aufrüstung in den Metropolen der Macht verhindert und durch neue Kriege ausgelöscht werden könnte. Aber genau das strebt die westliche Wertegemeinschaft durch weltweite Militärinterventionen an. Auch Deutschland müsse seine militärischen Fähigkeiten stärken, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (und er ist bekanntlich nicht der einzige). Es werde „von uns“ erwartet, dass wir uns bei der Beilegung von Konflikten stärker beteiligen: militärisch, für Sicherung von Ressourcen und Handelswegen. Welch ein Wahn!
Eigentlich liegt dieses primitive lineare Denken dem ganzen System des neoliberalen Kapitalismus zugrunde. Marktradikaler globaler Wettbewerb, Verfügungsgewalt über Menschen legen immerfort nur ein Verhaltensmuster nahe: Ich setze mich durch, egal, was damit den Betroffenen angetan wird. In persönlichen Beziehungen wirkt das schlicht egoistisch; zwischen Staaten wird das Kolonialismus und Imperialismus genannt. Ausbeutung, Entrechtung, Entwertung ohne jede Möglichkeit des Widerstandes zerstören Länder, die sozialen Beziehungen, die Seele der Menschen – übrigens auch der Täter. Wenn dieses Muster zwischen Eliten und Bevölkerung vorherrscht, wachsen die Klassenkonflikte. Eine Zeit lang lässt sich das von der Machtelite steuern und kontrollieren, aber es müssen zwangsläufig immer wieder heftige Krisen auftreten. Auch in Formal-Demokratien, in denen die Politiker ihrer Kontrollfunktion nicht gerecht werden, sondern sich mit einer rücksichtslosen wirtschaftlichen Elite verbünden.
Das aber ist genau der Prozess, den wir täglich in den Nachrichten verfolgen können. Schauen wir die aktuellen politischen Entscheidungen daraufhin an. Die Elite suggeriert: Wir haben alles im Griff! Die Realität sieht anders aus, wie an all den Krisen unschwer zu erkennen ist. Nicht die Bevölkerung, die die Folgen der Entscheidungen tragen und erdulden muss, verhält sich wie die anfangs geschilderten Kinder; vielmehr versuchen die Herrscher, sie wie unmündige Kinder zu behandeln, denen man nicht die Wahrheit sagen darf und die ab und zu bestraft werden müssen, wenn sie nicht einsichtig sind. Die Unmündigen sollen natürlich auch nicht erfahren, was ihre Vormünder hinter ihrem Rücken beschließen, über Freihandelsverträge, Privatisierungen, Waffenexporte, Steuerbefreiung für Konzerne. In der Kinder- und Jugendhilfe ist die letzte Konsequenz in Fällen der Gefährdung des Wohls der Betroffenen der Entzug des Sorgerechts.
Schlagwörter: Georg Rammer, Krieg, Neoliberalismus, Politik, Psychologie, Terror