von Wolfgang Brauer
Berlin war schon immer eine Hauptstadt der Selbstüberhebung. Das nehmen allerdings nur Provinz-Geister so richtig ernst. Wir selbst wissen, dass neben einer emporschießenden Spargelstange binnen kurzem eine zweite auftauchen wird und eine dritte sowieso. Mit Berlin verhält es sich ähnlich. Diese Stadt ist keine für das Solitäre. Nicht erst seit den Zeiten des „antifaschistischen Schutzwalles“ kommt hier alles mindestens im Doppelpack. Seit 1920 hat die Stadt zwei Zentren: das „historische“ rund um die Spreeinsel und die City West, das „Neue Zentrum“ zwischen Tiergarten und Messehallen. Letztere wurde allerdings weniger für Berlin angelegt, das namensgebende Charlottenburg war in wilhelminischer Zeit eine eigenständige fröhlich expandierende Großstadt. Aber auch bei der war schon so manches doppelt: Die Hauptgeschäftsachse zum Beispiel. Neunmalkluge werden jetzt mit dem „Ku’damm“ kommen. Stadtkenner wissen aber, dass dieser ehemalige Knüppeldamm durch die Vorstadtsümpfe in unmittelbarer Nähe eine Konkurrentin hat, die an Vitalität und Bedeutung erstens mithalten kann und zweitens zumindest in den nächsten Jahren nicht Gefahr laufen wird, in überteuerter und langweiliger Wohlstands-Ödnis zu versumpfen. Ein Schicksal, das derzeit der Kurfürstendamm erleidet.
Birgit Jochens – sie leitete viele Jahre das Museum Charlottenburg-Wilmersdorf – hat die Geschichte dieser Straße, der Kantstraße, aufgeschrieben. Im Verlag für Berlin-Brandenburg ist jetzt ihr opulent bebildertes Werk erschienen. Es ist eine Liebeserklärung an eine „urbane Mischung aus Kultur, Kiez und Commerz aller Couleur“, die noch heute diese Straße ausmacht. „Die Kantstraße hat ihre Authentizität erhalten“, attestiert ihr die Autorin. Das ist durchaus als Seitenhieb auf die von den Tourismuswerbern hochgejubelten ehemaligen Promeniermeilen wie die „Leipziger“, die Friedrichstraße oder eben auch den zitierten Kurfürstendamm gemeint, die zunehmend von rund um den Globus in allen Metropolen anzutreffenden Handelskonzernen und Fonds-Managern filetiert werden. Birgit Jochens erzählt die Geschichte der Kantstraße als Geschichte ihrer Bewohner: Schauspieler, Künstler, Musiker, Literaten und Publizisten, Techniker und Naturwissenschaftler, Ärztinnen und Ärzte, Juristen, Geschäftsleute und und… Das ist spannend. Hier wurden wichtige Kapitel der Kulturgeschichte des Kaiserreiches und der Weimarer Republik geschrieben – natürlich ist uns die Hausnummer 152 wichtig, hier befand sich seit 1927 die Redaktion der Weltbühne… In der Kantstraße blühte das jüdische Berlin, hier geschahen in der braunen Zeit böse und äußerst schäbige Dinge, hier war aber auch ein Zentrum des Widerstandes in Berlin. Und das Auf und Ab des ummauerten West-Berlins lässt sich hier trefflich studieren. Ganz in der Nähe, in einer Seitenstraße unweit der Deutschen Oper, wurde am 2. Juni 1967 Benno Ohnesorg ermordet. Und heute? In nur wenigen Magistralen der Stadt kann man wohl die Melange zwischen nobel, normal und hart an der Kante zum Absturz so konzentriert erleben, wie in der Kantstraße zwischen Breitscheidplatz und Stuttgarter Platz. Berlin eben. Birgit Jochens Buch verführt zum Flanieren. Nehmen Sie sich die Zeit!
Birgit Jochens: Die Kantstraße. Vom preußischen Charlottenburg zur Berliner CITY WEST, Berlin, 2017, Verlag für Berlin-Brandenburg, 167 Seiten, 26,00 Euro.
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Endlich nahm sich jemand auf der Grundlage solider Quellenkenntnis und vor allen Dingen unvoreingenommen der Biografie von Lilly Korpus an! Rolf Harder, Archiv- und Kulturwissenschaftler und langjähriger Mitarbeiter der Akademie der Künste, hat dies getan – und das Ergebnis ist beeindruckend. Er erzählt die Geschichte der 1901 in Nürnberg geborenen bayerischen Jüdin Lilly Irene Korpus, die erst 1950 erfuhr, dass Mutter und Schwester von den Nazis umgebracht wurden. Sie selbst konnte am 8. März 1933 mit Tochter Marianne in allerletzter Minute aus ihrer Berlin-Dahlemer Wohnung vor einer SA-Horde fliehen, die sich gerade anschickte, diese unter Führung des Berliner SA-Chefs Graf Helldorf höchstpersönlich zu stürmen. Die braune Bande hatte mit Korpus mehr als eine Rechnung offen: Willi Münzenberg hatte die Journalistin 1927 zur Chefredakteurin der zweitgrößten deutschen Illustrierten gemacht, der legendären A.I.Z. – die Mitarbeit Kurt Tucholskys, John Heartfields und vieler anderer an dieser wohl massenwirksamsten antifaschistischen Zeitschrift war Lilly Korpus zu danken. Dass sie im März 1933 vor den Faschisten floh, ohne sich vorher die Genehmigung „der Partei“ abzuholen, sollte ihr später im vermeintlich sicheren Exil beinahe zum Verhängnis werden. Wie viele deutsche Kommunisten ging sie in die Sowjetunion und geriet mit ihrem Mann in die Mühlen der „Säuberungen“ – Rolf Harder lässt keinen Zweifel daran, dass es letztlich nur dem Einsatz Georgi Dimitroffs zu danken war, dass beide überlebten. Die enge Beziehung zu Münzenberg allein war schon existenzgefährdend genug. Die junge Kommunistin hatte aber einst zur KPD-Führung unter Ruth Fischer gehört… Sie hatte – wie ihr Mann – 1935 in Paris mit Hugo Eberlein zusammengearbeitet und war mit Michail Kolzow befreundet. Von der eigenen Parteiführung, einschließlich dem noch immer für manche mythenumwobenen Wilhelm Pieck, hatten beide nichts zu erwarten. Im Gegenteil: Stalinistische Apparatschiks haben wie alle Inquisitoren einen langen Atem und vergessen nichts. Harder beschreibt die Umstände der schlussendlich zwanzig Jahre später erfolgten „politischen Hinrichtung“ des Mannes, der mit Lilly Korpus seit 1936 verheiratet war: Johannes R. Becher. 1958 wurde er von Leuten wie Walter Ulbricht und Alexander Abusch zur Strecke gebracht. Paradoxerweise sollte das letzte gedruckte Buch Bechers eine Biographie seines und seiner Frau mächtigsten Feindes sein: „Walter Ulbricht – ein deutscher Arbeitersohn“. Ein Blick auf das Typoskript zeigt übrigens, dass Ulbrichts Zensoren selbst von diesem letzten Kniefall Bechers nicht viel übrig ließen.
In den drei Jahrzehnten nach dem Tod ihres Mannes rang Lilly Becher darum, dessen Werk nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Sie wusste, dass ein Dichter, der mit immer denselben schlechten Versen dazu verdammt ist Staatsakte zu „verschönern“, für die Leser das Allerletzte ist. Für Johannes R. Becher poetisches Vermächtnis war es geradezu ein Glücksfall, dass sich Egon Günther und Günter Kunert 1968 seines Romanes „Abschied“ annahmen. Rolf Harder beschreibt am Beispiel des Ringens seiner Protagonistin um diese bemerkenswerte DEFA-Produktion geradezu modellhaft, wie in der DDR Kulturpolitik funktionierte. Letztendlich setzte sich Lilly Becher durch. Aber sie zahlte einen hohen Preis. „Bei Lilly Becher ist das Schwanken der Normalzustand […] Sie muss eine richtige Abreibung bekommen, aber nicht offiziell.“ Das stammt aus einem Brief Ulbrichts an seinen Kronprinzen Honecker. Wohlgemerkt: Das wurde nicht 1938 geschrieben, der Brief ist vom 29. Januar 1969 datiert.
Lilly Becher war es übrigens auch zu verdanken, dass aus des Dichters „Traumgehäuse“ eine bezaubernde kleine literarische Gedenkstätte, die mehr als ein Museum war, werden konnte. Es war eine der ersten Einrichtungen, die trotz der im Einigungsvertrag festgelegten Erhaltungspflicht für Kulturinstitute von Banausen in Nadelstreifen platt gemacht wurden.
Rolf Harder: Lilly Korpus, verheiratete Becher. Biographische Notizen, Edition Schwarzdruck, Gransee 2017, 152 Seiten, 18,00 Euro.
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