von Erhard Crome
Zum ersten Mal hatte ich Manfred Lauermann Anfang der 1990er Jahre in einem Workshop der Theoriesektion der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft praktisch erlebt. Manfred Lauermann und Claus Bärsch – den ich bereits als interessanten und sehr unkonventionellen Gastdozenten an der Universität Potsdam kennengelernt hatte – stritten, immer lauter werdend, darüber, ob Hegel den Heiligen Augustinus und Franz von Assisi richtig verstanden hatte. Sie hauten sich verschiedene Original-Zitate auf Lateinisch um die Ohren und die entsprechenden Hegel-Zitate auf Deutsch. Herfried Münkler, der damals noch nicht Ordinarius für Bellizistik an der Berliner Humboldt-Universität war, sondern als halb-sozialliberaler Wunderknabe von Iring Fetscher aus Frankfurt am Main galt, saß als Moderator zwischen beiden, hatte augenscheinlich Schwierigkeiten, dem zu folgen, und war froh, als es zu Ende war.
Der Name Lauermann war mir bereits vorher geläufig, weil ich wusste, dass er Freund von Peter Ruben war. Die „Ruben-Affäre“ 1981 war das letzte Partei-Ausschlussverfahren der SED, bei dem es um ideologische „Abweichungen“ in Gestalt des „Revisionismus“-Vorwurfs ging. 1981 wurde man dafür nicht mehr erschossen, konnte aber auch in der DDR noch aus Lohn und Brot fliegen, musste der Wissenschaft ade sagen und sich „in der Produktion“ tummeln. Einigen Jüngeren, die in die „Ruben-Affäre“ hineingerührt wurden, erging es in der Tat so. Freunde Rubens in Westdeutschland organisierten Solidaritätsbekundungen; Lauermanns Rolle bestand unter anderem darin, die DKP-Führung dazu zu bekommen, bei der SED-Führung zu intervenieren. Das Stichwort war: „Wir haben hier genug Dissidenten aus der DDR. Da muss Ruben jetzt nicht noch dazukommen.“ Ideologie-Sekretär Kurt Hager kassierte den Revisionismus-Vorwurf. Die Vorwürfe „parteischädigendes Verhalten“ und die als kleinbürgerlich geltende „Neigung, sich an Erfolgen zu berauschen,“ blieben. Peter Ruben, Camilla Warnke und einige andere wurden aus der SED ausgeschlossen, behielten jedoch ihre Anstellung an der Akademie der Wissenschaften und damit die regelmäßige Gehaltszahlung, bei gleichzeitigem Verbot öffentlich aufzutreten und zu publizieren. Manfred Lauermann hat das in einer aus Anlass des 80. Geburtstages von Ruben erschienenen Broschüre (Helle Panke e.V., Philosophische Gespräche, Heft 37) sehr schön beschrieben.
Eine fachliche Einordnung Lauermanns fällt schwer. Er befasst sich grundlegend mit Themen der Soziologie, aber auch der Philosophie und Ideengeschichte. Er ist gewiss einer der besten Kenner Spinozas in Deutschland, aber auch von Carl Schmitt, Althusser und Luhmann, von Marx ohnehin. Er hatte seit den 1970er Jahren alle Ideologie- und Theoriedebatten auch in der DDR verfolgt, hatte von etlichen Zeitschriften immer das ganze Heft von vorn bis hinten gelesen, wo andere nur einzelne Artikel zur Kenntnis nehmen.
Vor allem aber ist er – Jahrgang 1947 – etwas, das andere nur anrufen, ein wirklicher „68er“. Dazu hat er in der Zeitschrift Berliner Debatte Initial vierzig Jahre später einen noch heute sehr lesenswerten Text geschrieben. Danach ist „68“ am Ende die scheinbar paradoxe Figur, dass die Bewegung die Gesellschaft kritisiert, deren Teil sie logischerweise ist. Das bedeutet auch für eine kommende Protestbewegung, sich bewusst zu sein, Mikro- und Makropolitik zugleich zu betreiben. Will man sie auf den Staat verpflichten (Parlament, Regierung), entzieht sie sich und verharmlost sich zur bloßen Kommunikationsgemeinschaft, tauchen „Breschen“ im Gefüge der Macht auf, transformiert sie sich zur Zivilgesellschaft, die den Staat delegitimiert. Nimmt die linke Bewegung Parteiform an, verlagert sich die Balance in Richtung Makropolitik. Aber ihre Moral-Ressourcen entstammen weiter der Mikropolitik. Das braucht die Selbstbeschreibung in Gestalt einer Souveränitätserklärung: Wir machen auch und gerade dann Politik, wenn wir politisch scheinbar erfolglos sind.
Als Peter Ruben für Berliner Debatte Initial 1993 einen Heftschwerpunkt zum Thema „Marxismus“ vorbereitete, war dies eine Zeit, da viele meinten, das sei nach dem Ende des „realen Sozialismus“ nun aber wirklich ein „toter Hund“. Die Beteiligten waren anderer Meinung, darunter Lauermann. Er betonte, in der veränderten Lage gehe es um eine Wiederentdeckung des Marxismus, ein „neues Spiel“. Im Jahre 1998 publizierte Berliner Debatte Initial einen Schwerpunkt: „Die soziale Frage einst und jetzt“. Ruben schrieb einen Artikel zur „kommunistischen Antwort auf die soziale Frage“, andere Beiträge befassten sich mit der Funktion von Bismarcks Sozialpolitik, der sozialdemokratischen Lösung der sozialen Frage und damit, dass der Neoliberalismus zur sozialen Frage schweigt. Um den Schwerpunkt abzurunden, sollte auch ein Text zum „Sozialen im Nationalsozialismus“ aufgenommen werden. Manfred Lauermann, der die einschlägige Literatur zum Nationalsozialismus ebenfalls kennt, fand sich bereit, den Artikel zu schreiben. Seine Pointe war, dass der Staat eine Ballung der Macht mit Unterdrückung und Terror verkörperte, die innere Politik für die Deutschen aber Sozialpolitik für die Arbeiter – im Sinne einer Mittelschichtsideologie, nicht der Arbeiter als Klasse – einschloss: Arbeitsbeschaffung, Wohnungsbau, fordistische Konsumpolitik mit Volkswagen und Urlaubsheimen. Ohne dies lässt sich die lange anhaltende Stabilität der damaligen Verhältnisse nicht hinreichend erklären. Mit Götz Alys Buch „Hitlers Volksstaat“ war die Grundthese Lauermanns dann 2005 in der Fachwissenschaft angekommen.
Aber wer zu früh kommt, den bestraft auch jemand. In diesem Falle eine neue Inquisition. Im Jahre 1486 veröffentlichten die Inquisitoren Heinrich Kramer und Jakob Sprenger ihr Werk genannt „Hexenhammer“. Darin wurde beschrieben, wie Hexen und Zauberer, die mit dem Teufel im Bunde stehen, erkannt werden können, um sie dann einer Verurteilung zugeführt zu werden, in der Regel durch Verbrennen auf dem Scheiterhaufen. Der „linke“ Inquisitor von heute heißt Volkmar Wölk. Er arbeitet an der Entlarvung aller, die „rechts“ sind. Der Mann ist Angestellter der Linken-Fraktion im Sächsischen Landtag. In seiner kürzlich publizierten Beschreibung einer „europäischen konservativen Revolution“ kommt Lauermann in Fußnote 84 vor. Dort heißt es: „Lauermann ist ein ehemaliger orthodox-marxistischer Linker, dessen Verachtung der bürgerlichen Gesellschaft ihn nach rechts außen hat wandern lassen.“ Die „Verachtung der bürgerlichen Gesellschaft“ ist aber bekanntermaßen links und kommt bereits von Marx her. Warum das heute ein Kriterium für rechte Gesinnung sein soll, weiß der Inquisitor wahrscheinlich selbst nicht. Fest macht er das an einem Text von Lauermann über die „Bilderberger“. Weshalb das Verdikt „Verschwörungstheorie“, das die bürgerlichen Medien gern darüber decken, von links nachgeplappert werden soll, bleibt ebenfalls völlig unklar. Allerdings hat Lauermann den Text in einer Zeitschrift publiziert, die heißt „Tumult“ und gilt als „rechts“. Inkriminiert wird so nicht nur der Inhalt, sondern auch der Ort der Veröffentlichung. Der Inqusitor entscheidet, wo der „wahre Linke“ publizieren darf.
Nun war Manfred Lauermann nicht nur Alt-Linker und Privatgelehrter, sondern auch langjähriges Mitglied der Historischen Kommission der Linkspartei. Wölks „Entlarvung“ schreckte einige auf. Es fanden Debatten statt zu Lauermann und seinen Texten. Darunter zu seinem Text in Berliner Debatte Initial zum „Sozialen im Nationalsozialismus“. Nun hätte man den natürlich bereits vor seiner Berufung lesen können, immerhin war er fast zehn Jahre vorher erschienen. Jetzt war es der falsche Inhalt, Ausdruck rechter Umtriebe. Wenn der Zusammenhang von falschem Inhalt und falschem Ort zuträfe, wäre Berliner Debatte Initial eine „rechte“ Zeitschrift.
Bei Hexenhammer-Kramer war es übrigens so, dass er zum Zwecke von Inquisition und Hexenverfolgung durch das Land reiste. Kam er an einen neuen Ort, hielt er zunächst eine „Hexenpredigt“, warnte vor der Bedrohung durch den Teufel und forderte seine Zuhörerinnen und Zuhörer auf, ihm Verdächtige zu melden. Die wurden dann dem entsprechenden Verfahren zugeführt. Je mehr er reiste und predigte, desto mehr dem Bösen Verfallene wurden ausgemacht.
Nun wird man heute nicht mehr verbrannt, auch wenn ein selbsternannter Inquisitor sein Verdikt gesprochen hat. Und der Genosse Stalin kann auch niemanden mehr erschießen lassen. Aber der Linken-Parteivorstand hat die Historische Kommission am 14. Mai 2017 neu berufen, jetzt ohne Manfred Lauermann. Der kann gewiss ironisch lächelnd ohne diese Mitgliedschaft leben. Für die Linke dürfte es ein Verlust sein. Es gibt nicht viele so kluge linke Intellektuelle in Deutschland.
Schlagwörter: Berliner Debatte Initial, Erhard Crome, Historische Kommission der Linkspartei, Manfred Lauermann, Volkmar Wölk