von Erhard Crome
Der Kapitolshügel von Rom trug in der Antike den Tempel des Jupiter Optimus Maximus, den wichtigsten Tempel der Stadt, und eine gewaltige Statue des Gottes Jupiter, der obersten Gottheit. In der Kaiserzeit endeten nach erfolgreichen Kriegszügen dort die Triumphzüge. Dem Untergang des (West-)Römischen Reiches folgten Zerstörungen, 1527 die Plünderung der Stadt durch Söldner des Kaisers Karl V. Danach ließ der Papst den Platz durch Michelangelo als Ganzes neu gestalten. Dazu gehören eine Kopie des überlebensgroßen Bronzestandbildes des römischen Kaisers Marc Aurel zu Pferde sowie der neugestaltete Konservatorenpalast (die conservatori bildeten die weltliche Stadtregierung von Rom).
In diesem Palast befindet sich der riesige, etliche Meter hohe „Saal der Horatier und Curiatier“. Das bezieht sich auf die monumentalen Wandgemälde, die Szenen aus der Frühgeschichte Roms darstellen, wie die Auffindung der Zwillingsbrüder Romulus und Remus, den Raub der Sabinerinnen sowie den – namensgebenden – Kampf der drei Brüder aus dem römischen Geschlecht der Horatier, die über die Curiatier aus Alba Longa siegen und damit die Vorherrschaft Roms sichern. In diesem Saal unterzeichneten am 25. März 1957 die Vertreter der sechs Gründerstaaten – Frankreich, BRD, Italien und die BeNeLux-Staaten – die Römischen Verträge, mit denen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft geschaffen wurde, aus der dann schließlich die heutige Europäische Union hervorging. Auf zeitgenössischen Fotos sieht man Teile der alten Wandgemälde hinter den Unterzeichnern, wenn das Bild die gesamte Tischreihe zeigt auch den Arm einer überlebensgroßen schwarzen Gestalt. Die ist Teil einer Monumentalstatue von Papst Innozenz X. an der rechten Stirnseite des Saales. Er gibt den Römischen Verträgen sozusagen seinen Segen. Gegenüber eine Statue von Papst Urban VIII. Dieser Innozenz (1644–1655) war ein eher unbedeutender Papst. In seine Amtszeit fiel der Westfälische Frieden 1648, der den Dreißigjährigen Krieg beendete, gegen den er jedoch protestierte, weil er der „katholischen Sache“ in Deutschland Einbußen brachte. Urban VIII. (1623–1644) war Innozenz‘ Vorgänger. In seine Zeit fiel der berüchtigte Prozess der Heiligen Inquisition gegen Galileo Galilei.
Als Roms Legionen gefallen waren, schickte es Dogmen in die Provinzen, schrieb Heinrich Heine ironisch. Die Römische Kirche war die Fortsetzung des Römischen Reiches mit anderen Mitteln. In diesem Sinne hatte Papst Gregor der Große (590–604) – zu jener Zeit unterstand er als Bischof von Rom dem (ost-)römischen Kaiser, der in Byzanz residierte und noch über weite Teile Italiens herrschte – bereits im Jahre 603 die kaiserlichen Abgesandten im Kaiserpalast zu Rom empfangen, mit ihm selbst, Papst Gregor, in der Rolle des Hausherrn. Mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge kehrte die Idee Rom unter den Augen der Päpste in die Weltlichkeit zurück. Dazu passt, dass die Flagge der EU, die zwölf Sterne auf dem blauen Grund, ein katholisches Symbol sind: der Sternenkranz der Mutter Gottes. Lanciert wurde das Symbol 1955 von dem damaligen Pressechef des Europarates, Paul Levy. Um den Protestanten und Ungläubigen die Sache schmackhaft zu machen, wurden die zwölf Sterne zum Zeichen der „Vollkommenheit und Einheit“ erklärt.
Dazu passten auch die Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge. Papst Franziskus hat bekanntermaßen ein positives Image, als erster Papst aus Lateinamerika und wegen der Hinwendung zu den Armen. Er ist aber auch der erste Jesuit auf dem Papstthron. Und die sind seit Jahrhunderten die geschicktesten Verfechter des wahren Glaubens. Franziskus empfing am Vorabend der EU-Feierlichkeiten, am 24. März 2017, im Vatikan die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Länder (Großbritannien war bereits nicht mehr dabei, obwohl es noch EU-Mitglied ist) sowie die Vertreter der EU-Institutionen. In seiner Rede betonte er, Europa sei „nicht eine Summe von einzuhaltenden Regeln“, sondern „eine Art, den Menschen ausgehend von seiner transzendentalen und unveräußerlichen Würde zu begreifen“. Am Ursprung der Idee Europa stehe „die Gestalt und die Verantwortlichkeit der menschlichen Person samt dem Ferment einer im Evangelium gegründeten Brüderlichkeit […] mit ihrem Willen zur Wahrheit und zur Gerechtigkeit, der von einer tausendjährigen Erfahrung geschärft wurde“. Hier zitierte der Papst den früheren italienischen Ministerpräsidenten (und Katholiken) Alcide De Gasperi, der bereits 1954 starb, doch als einer der Gründungsväter der Europäischen Gemeinschaften gilt.
Der Papst setzte fort mit der Anrufung von Roms „Berufung zur Universalität“. Es sei deshalb 1957, hier verwies er auf den damaligen niederländischen Außenminister Joseph Luns (ebenfalls Katholik), als Symbol dieser Erfahrung zum Ort der Vertragsunterzeichnung erwählt worden. Am Ursprung der europäischen Kultur stehe das Christentum. Die „Seele Europas“ lebe „von den gleichen christlichen und humanen Werten“. Indem er den Anwesenden dies ins Stammbuch schrieb, erneuerte der Papst als oberster Sachwalter dieser Seele – in der ihm eigenen freundlichen Weise – das seit Gregor dem Großen bestehende Grundverständnis, dass die christliche Kirche, die westliche, römische, dem weltlichen Europa des Westens übergeordnet ist. Die 27 Staats- und Regierungschefs sowie die EU-Oberen hörten artig zu und dankten.
Für den weltlichen, offiziellen EU-Festakt am 25. März war der Saal der Horatier und Curiatier herausgeputzt worden. Das hatte allerdings, wie auf der römischen Webseite RomaCulta zu lesen ist, ein usbekischer Magnat gesponsert. Die 27 Staats- und Regierungschefs unterzeichneten in dem Saal eine hochoffizielle „Erklärung von Rom“. Kommissionschef Juncker sprach von der Erneuerung eines „Ehegelübdes“. Bevor die Brexitverhandlungen losgehen, sollen alle auf Linie gebracht werden. Der Brexit kommt in der Erklärung zwar nicht vor, Trump auch nicht. Aber es ist die Rede von „nie dagewesenen Herausforderungen“, vor denen die EU stehe. Vor zehn Jahren waren es noch nur „große Herausforderungen“. Dafür aber will die EU „eine entscheidende Rolle in der Welt… spielen“.
Der italienische Ministerpräsident Paolo Gentiloni beschwor in seiner Rede ebenfalls den Geist des Ortes. Mit den Europäischen Verträgen habe der „Geist der Freiheit“ gesiegt. Der Präsident des Europaparlaments, der italienische Konservative Antonio Tajani, betonte, dass das Realeinkommen in EU in vergangenen 60 Jahren deutlich schneller gestiegen sei als in den USA – womit er die EU als offensichtlichen Herausforderer der USA präsentierte. Dann erinnerte er an den römischen Kaiser Trajan (98–117), der auf der iberischen Halbinsel geboren wurde und als erster Kaiser aus der Provinz kam. Trajan sei am Tag vor der Machtübernahme zu seinem Vater, der römischer Senator war, gegangen und habe ihn gefragt, ob er das Amt übernehmen solle. Der antwortete, Rom ist nicht nur eine Stadt, auch nicht nur Imperium, Rom ist eine Identität. Und das sind im Moment wir – das hatte Tajani nicht gesagt. Aber er hatte es gemeint.
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