20. Jahrgang | Nummer 11 | 22. Mai 2017

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Very dry toilet-papier, Syberbergs Kortner-Filme…

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Dröhnende Windmaschine, Nebelschwaden, leise klirrende Musik und auf einer Leinwand die Schatten kahler Bäume im fahlen Licht. Davor ein Häufchen frierender Leute mit dem Rollkoffer an der Hand. – Ein eindringliches Bild vom Getriebensein des Menschen durch eine raue Welt. Als Sinnbild vorangestellt der journalistischen Recherche „Winterreise“ von Yael Ronen. Die aus Israel stammende Gorki-Hausregisseurin gestaltete das von ihr letztlich poetisch verdichtete Projekt gemeinsam dem jetzt für zwei Jahre fest ans Haus engagierten „Exil-Ensemble“, das komplett aus Profi-Spielern besteht. Gemeinsam reiste man im Januar dieses Jahres zwei Wochen lang im Bus quer durch Deutschland und nach Zürich. Uraufgeführt wurde die „Recherche“ als eine freilich prononciert subjektiv gefärbte „Ethnologie des Inlands“. Letztlich ist ja, wie jeder gute Trip, auch dieser eine kurvenreiche Fahrt zum eigenen unerforschlichen Ich.
Oder anders gesagt: Das Projekt „Winterreise“ ist eine Art Nummern-Revue. Perfekt performt, videogestützt (artifizielle Fotomontagen zu den jeweiligen Lokalitäten sowie graphisch sehr reizvolle Illustrationen aus Notizheften) und mit elektronischem Klangteppich unterlegt. Zusammengesetzt ist die Show aus mehr oder weniger signifikanten Beobachtungen, Anekdoten, Erlebnissen und Reflexionen aus den Fahrtenbüchern der Reiseteilnehmer sowie aus deren biografischen Reminiszenzen. Allein schon der formal-ästhetisch hohe Standard (Text, Spiel, Filmeinspieler) beeindruckt – finanziell ist das ganze Unternehmen freilich kräftig gestützt durch diverse Stiftungen und kooperierende Bühnen.
Um es gleich zu sagen: touristische Sehenswürdigkeiten spielen kaum eine Rolle. Vielmehr wird immerzu deutlich, wie der Fokus, der ansonsten beständig auf diesen Reisenden (oder: Exilanten, Fremden) lastet, wie der souverän und gern mit Witz und sogar Häme umgekehrt wird („Was würden Sie mitnehmen, müssten Sie fliehen? Was würden Sie am meisten vermissen?“). Das uns Vertraute erscheint dann als das Fremde oder Befremdliche. Ein Vexierspiel, irritierend, auch komisch-grotesk, aber vor allem nachdenklich machend und also aufschlussreich für beide Seiten – und so den aufklärerischen Sinn des Unternehmens erfüllend.
Doch immer wieder offenbart sich in den zwei locker dahinfließenden Theaterstunden eine tiefe, qualvolle Zerrissenheit der aus Syrien, Afghanistan und Palästina kommenden Künstler: etwa die zwischen Stolz und Scham und die zwischen zwei Orten, zwischen heute hier und gestern dort und obendrein die zwischen dem Leben „davor“ und „danach“. Sie alle hier sind zwar frei, endlich frei von Lebensbedrohung, aber längst nicht wirklich angekommen – schwer lasten die Verluste, Abschiede, Trennungen, Traumata, verfolgen nachts die Albträume, bohren Schmerzen und schwere Enttäuschungen, wovon auch immer wieder die Rede ist.
Gleich zu Anfang beim Start in Berlin gibt der Busfahrer ein (kabarettistisch platt überzeichnetes) Beispiel deutsch-autoritärer Ansage mit der teutonischen Verkündigung der Bus-Ordnung. Ein bisschen wohlfeiles Deutschland-Bashing muss sein. Niels Bormann macht die lustige Busfahrer-Rudolf-Nummer. Dann gibt er, der rührend bemüht ist und etwas skurril, den grüblerischen Reiseleiter und fragt sich, ob seinen Schützlingen die Tour wohl gefalle, ob sie über- oder unterfordere, gar ihnen Angst oder Ärger mache. Er wird nicht recht schlau aus ihnen. Aber die auch nicht aus ihm und aus Deutschland. Da sagt dann einer, eins bleibe gleich bei Kälte und Schnee, Hitze und Wüste: in jedem Fall bleiben die Leute im Haus. Aha! Und dann singen sie dem Niels ein schön wehmütiges deutsches Lied; im Deutschkurs gelernt.
Ich will hier nicht aufzählen, was so alles unterwegs passierte in den Köpfen und draußen. Im schönen, aus Ruinen auferstandenen Dresden interessieren nicht die Kunst und Architektur, sondern Pegida. Und Niels versucht, dieses Pegida auf höchst alberne Art zu erklären. Peinlich. Und Weimar ist nicht Klassik, sondern allein Buchenwald. Macht da ein Syrer sich seinen eigenen Vers drauf: „Die Schrecken von heute werden zu den Museen von morgen.“ In Mannheim, dem Schiller-Exil, kommt Brechts Text von 1937 „Über die Bezeichnung Emigranten“.
Aber immer wieder blitzen alberne Momente, wird lauthals gelacht. Über die bierernste Sexualkunde im „Aufklärungsportal der Bundesregierung Zanzu“ oder über diverse Probleme mit deutschen Toiletten: „very dry toilet-papier“. Eher leise amüsiert man sich über die Schwierigkeiten der Palästinenserin mit ihrem German Boy-Friend; hat mit dem „Fremden“ zu tun sowie mit dem in aller Welt Bekannten.
Zum optimistischen Schluss nach letztlich und alles in allem doch überwiegend melancholischen, ja bitteren Momenten (die Erinnerungen bluten, die seelischen Wunden schwären) ruft Agha aus Damaskus uns zu (und sich selbst wohl auch): „Hört auf zu meinen, dass wir Opfer sind und traurig sein müssen. Wir sind glücklich.“

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Gedenken an den großen Theatermann Fritz Kortner. Am 12. Mai hatte er seinen 125. Geburtstag. Es gibt Filmdokumente von Hans-Jürgen Syberberg…
Gegen den falschen Ton anrennen war ihm Lebensaufgabe. Er hasste es, wenn da wer „schmarotzt am Gefühl“ oder „Sumpfgenüsse unverbindlicher Schmerzen“ zelebriert. Fritz Kortner (1892-1970), Schauspielstar im Berlin der Zwanziger und Regisseur im Nachkriegs-Westdeutschland, war wirkungswütig. Aber nicht auf Effekte erpicht, sondern auf Überrumpelung durch Wahrhaftigkeit. Er war besessen von der Gewissheit, dass der Text die Tradition des europäischen Theaters ausmacht. Nach seiner Auffassung musste jedes Spiel von geistiger Durchdringung geprägt sein, also von ständiger Prüfung. Er hasste „Denkdrückeberger“. Das wird aufregend deutlich in einem einzigartigen Filmdokument: Fritz Kortners Probe einer Szene aus „Kabale und Liebe“ von Schiller aus dem Jahr 1965 in den Münchner Kammerspielen. Mit Christiane Hörbiger und Helmut Lohner. Es ist die siebte, die Todesszene (Luise: „Die Limonade ist gut.“ Ferdinand: „Wohl bekomm’s!“).
Für allein sieben Seiten Reclam-Heft-Text gibt es 110 filmisch dokumentierte Minuten einer schwer akribischen und doch wie leicht getan wirkenden Arbeit an einem finalen Psychotrip mit tollem Text: Nur ja keine „Regiemechanik“! – In einigen zwangsweise stillen Stunden habe ich in die Doppel-DVD „Die Fritz-Kortner-Filme“ von Hans-Jürgen Syberberg aus dem Alexanderverlag Berlin angeschaut.
Der Meister unten im Parkett, oben auf der Bühne die angedeutete Dekoration: Ein Verschlag (Luises Kemenate), eine Tür, Tisch, Stühle. Und unentwegt Unterbrechung. Kaum ein Satz gelangt an sein Ende. Immerzu fährt K. dazwischen. Kommentiert, doziert, versucht Varianten von Gefühlsschattierungen. Ein unerbittliches Ringen um den rechten Ton, die rechte Geste. Da kommt K. auf Tour. Er springt auf die Bühne, macht vor, dirigiert – zart oder heftig – Körper, Requisiten, Tonfolgen, Satzmelodien, Pausen, Tempi. Den Text hat er im Kopf. Auch gibt es keine Zettelwirtschaft mit Notaten; keine Assistenten – höchstens Kaffeeholer.
Der stattliche, ständig Zigarre paffende alte Herr, schon über siebzig, scheint sich frisch zu fühlen – die Bühne sein Element. Und es ist nicht nur lehrreich, sondern rührend, wie er zur Demonstration noch einmal wie einst als Schauspieler in die Figuren schlüpft: In Schillers hochfahrende Helden, in ihre Texte, ihre Seelen – und in des Autors Hirn und Herz. Staunenswert. – Wie die Arbeit des gerade 30 Jahre jungen Dokumentaristen Hans-Jürgen Syberberg. Lautlos stellt er sich in den Dienst der Sache; schneidet die Überfülle des Materials („80 Stück 120-Meter-Rollen“) prägnant zusammen. Sodass man alles zuvor detailliert abgesprochen Praktische des Filmens vergisst – gelegentlich huschen, wie zufällig – ein Techniker, ein Mikro ins Bild. Stört aber nicht. Man bleibt gebannt von einem tollen Kammerspiel zwischen Regisseur und Schauspielern. Von einem wie zufällig gewachsenen ganz eigenen Drama voller Leidenschaft – und einem Lehrstück: Es handelt von der Mühe bei der Herstellung von Kunst.
Bernhard Minetti verdanken wir die Beobachtung, dass Kortner seine „wilde Kraft“ als Schauspieler, dass er den „Furor seiner Natur“ als Regisseur, also nach Rückkehr aus amerikanischem Exil, verwandelt habe in tiefste Nachdenklichkeit. K. selbst sah sich als „jüdischer Schwerblütler aus deutschem Stall“. „Fritz Kortner hat sich immer als Außenseiter gefühlt“, sagt Peter Stein, ein ehemaliger Assistent. Vielleicht ist es dieses Grundgefühl des Draußenseins, das diesem Mann einen besonderen Begriff gibt von der grundsätzlichen Tragik des Menschen, der ihm wiederum – als Künstler – zu jener von Alfred Kerr gerühmten Kraft treibt: „Sprachwucht verschweißt mit Gefühl“ – die Kerrsche Formel für Kortner, „den Einzigen“.