20. Jahrgang | Nummer 11 | 22. Mai 2017

Deutsches Protokoll

von Stephan Wohanka

Ein Kreis von Menschen, zufällig zusammengekommen, eher „gut bürgerlich“, eher älter; vielleicht nur insofern etwas aus der Norm fallend, da alle kulturpolitisch interessiert und durchaus kenntnisreich sind. Man duzt und siezt sich; das Gespräch dreht sich um die Bedeutung von Namen aus dem östlichen Europa… bis dann einer der Anwesenden die Frage aufwirft, ob man in den Medien einen Hinweis darauf gefunden hätte, dass die Einführung der Schulpflicht in Preußen sich zum 300. Male jähre, ein Gesetz nota bene durch den Soldatenkönig dekretiert; ob des Vorbildcharakters dieser Maßnahme wäre das doch ein Grund, dies öffentlich zu beachten.
Eine Antwort kommt prompt: „Eh, das lassen doch die Amerikaner nicht zu! Die versuchen doch bis heute mit dem uns aufgezwungenen Bildungsföderalismus uns dumm zu halten und als Konkurrenten auszuschalten. Geht doch in die Humboldt-Uni, da könnt ihr sehen, wie viele Nobelpreisträger Deutschland mal hervorgebracht hat. Und heute – Verdummung allenthalben.“ – „Gelinde gesagt – ist das nicht etwas weit hergeholt, der Föderalismus ist doch damals aus ganz anderen Gründen installiert worden. Er knüpft auch an deutsche Traditionen an, Deutschland wurde ja erst 1871 zu einem einheitlichen Gebilde. Und außerdem erlaubt er die Existenz von mehreren kulturellen Zentren im Lande, Hamburg, Frankfurt, München, neben Berlin; ganz im Gegensatz zum zentralistischen Frankreich, wo vieles, zu vieles auf Paris ausgerichtet ist.“
„Nee, nee, da haben schon noch die Amerikaner die Hände drin, 70.000 sind ja hier weiterhin stationiert.“ – „Und was hat das mit unserer Bildung zu tun?“ – „Nicht nur mit der Bildung, sondern ganz generell sind wir noch kein souveränes Land. Jeder Neger-Staat hat eine Verfassung, wir haben nur ein Grundgesetz. Geht alles auf die Pläne der Amerikaner nach dem Krieg zurück.“ „?“ – „Sind Ihnen diese Pläne kein Begriff?“ – „Doch schon, ich weiß von dem Morgenthau-Plan, nachdem Deutschland zu einem Agrarstaat umgekrempelt werden sollte. Seine Realisierung ist aber meines Wissens nie wirklich in Erwägung gezogen worden. Und dann brauchte auch der Westen wie der Osten seine ‚jeweiligen‘ Deutschen im beginnenden Kalten Krieg.“ – „Morgenthau-Plan – das sind doch Kinkerlitzchen. Schauen Sie sich mal den Hooton-Plan oder Kaufman-Plan an; kennen Sie nicht? Schauen Sie im Internet nach; schlimmer als Auschwitz… das deutsche Volk sollte sterilisiert werden, Frauen und Männer.“ – „Ist ja wohl aber nicht geschehen?“ – „Nein, das Schlimmste konnte verhindert werden, aber jetzt die Überflutung mit jungen Männern soll unseren Volkscharakter verändern, auch das ist dort festgelegt; aber lassen wir das.“
„Nicht ganz, mich interessiert dann aber doch noch eine Sache: Wenn die Amerikaner uns so im Griff haben – warum konnte sich dann Kanzler Schröder dem Irakkrieg verweigern?“ „Der hat doch die Quittung dafür postwendend bekommen; ist doch abgewählt worden.“ – „Aber doch nicht deshalb, die Ablehnung des Krieges traf doch auf breiteste öffentliche Zustimmung.“ – „Natürlich nicht deshalb, sondern die ‚Bilderberger‘ haben ihn abgeschossen! Die ‚Bilderberger‘ wurden vom belgischen König nach dem Krieg ins Leben gerufen, um die Welt…“. – „… die ‚Bilderberger‘ sind mir sehr wohl ein Begriff; das hat doch mehr mit Verschwörungstheorien als mit Realität zu tun. Wenn sogar Trittin von den Grünen dort mal Gast war, kann das Gremium nicht allzu einflussreich sein. Schröder hat die Wahl damals nur sehr knapp verloren, da kann es nicht weit her sein mit deren Macht.“ „Können Sie alles in Protokollen nachlesen. Bill Clinton wurde dort einbestellt, dann wurde er Präsident der USA; alles dort beschlossen.“
Ein anderer wirft ein: „Apropos deutschen Bundeskanzler… die müssen alle in Washington ein Schriftstück unterzeichnen, eine Art Loyalitätserklärung; stimmt schon, wir sind nicht souverän, alles andere ist Augenwischerei.“ – „Nicht doch, auch so eine Mär…“. – „Keine Mär, das hat Egon Bahr in einem ZEIT-Artikel bestätigt.“
Wie gesagt – ein Protokoll eines Gespräches unter ganz normalen Leuten im Deutschland des Jahres 2017. In Details weicht es natürlich vom wirklich gesprochenen Wort ab. Sachlich stimmt es; einschließlich der Fehler. Später über das Gesprochene nachsinnend, kam mir Sebastian Haffner in den Sinn. Er schrieb auf dem Hintergrund der weltgeschichtlichen Anmaßungen, die sowohl vom „Marxismus“ als auch vom „Hitlerismus“ ausgingen, Folgendes: Sätze wie die oben zitierten „haben eine große Suggestivkraft. Wer sie liest (oder hört – St. W.), hat das Gefühl, dass ihm plötzlich ein Licht aufgeht. Das Verworrene wird einfach, das Schwierige leicht. Sie geben dem, der sie willig akzeptiert, ein angenehmes Gefühl von Aufgeklärtheit und Bescheidwissen, und sie erregen außerdem eine gewisse wütende Ungeduld mit denen, die sie nicht akzeptieren, denn als Oberton schwingt in solchen Machtworten immer mit: „…und alles andere ist Schwindel!“