von Henry-Martin Klemt
Für Johannes und Vera
Als mein Vater glaubte, es wär Zeit,
kroch er heimlich durch den Stacheldraht.
Rigas Trümmer warn nicht mehr verschneit.
Manche Felder trugen junge Saat.
Und er lief, wie er noch nie gelaufen
zwischen Schöneweide und Odessa,
wagte nur am Tage, zu verschnaufen,
ohne Knarre, Panzerfaust und Messer.
Frei von Tressen, frei von all dem Blech,
frei von Schuld, denn keinen traf sein Schuss,
rannte er und fand es nur gerecht,
weil man nach dem Krieg nach Hause muss.
Und er lief, wie er noch nie gelaufen
zwischen Schöneweide und Odessa,
wagte nur am Tage, zu verschnaufen,
ohne Knarre, Panzerfaust und Messer.
Wusste, wie man von der Erde frisst,
dass man nicht aus jedem Drecksloch trinkt,
wie man liegend durch die Hose pisst
und sich tot stellt, wenn ein Fremder winkt.
Und er lief, wie er noch nie gelaufen
zwischen Schöneweide und Odessa,
wagte nur am Tage, zu verschnaufen,
ohne Knarre, Panzerfaust und Messer.
War ein Dörfchen, still und abgebrannt,
einen Friedhof gab es, keinen Rauch.
An dem Platz, wo einst das Kirchlein stand,
lag nur Asche, Menschenasche auch.
Doppelkreuze standen schief im Wind,
wohl für einen Reichen auch ein Stein,
und mein Vater, voller Schorf und Grind,
grub sich bei den andern Toten ein.
Doch die Toten haben ihn verraten,
krochen aus dem Loch, als er geschlafen,
stapften fort und holten die Soldaten,
die ihn fast erfroren endlich trafen.
Was er spürte, war zuerst der Stich
eines Bajonetts ins rechte Knie,
dann den Kolbenschlag in sein Gesicht
und den Rotz, den einer auf ihn spie:
Lauf nur, lauf, wie du noch nie gelaufen
zwischen Schöneweide und Odessa.
Humpelfritz, du willst doch nicht verschnaufen?
Du kannst wählen: Kugel oder Messer!
Neunzehnneunundvierzig hält ein Zug
zwischen Trümmern einer deutschen Stadt.
Vater trägt die Stiefel, die er trug,
als der Russe ihn gefangen hatt‘.
Trägt die Tschapka, die ein Russe gab,
Bücher, die ein Russe vor ihm las,
einen Rucksack, prall von Krimtabak
für vier Jahre Arbeit – gutes Maß.
Und er rannte, wie er niemals rannte
zwischen Schöneweide und Odessa,
lief durch Straßen, die er kaum erkannte:
Das wird alles neu und schön und besser!
Was er sonst noch schleppte – Vater schwieg.
Schwieg und schwieg mit einer Mordsgeduld.
Keinen hat er umgebracht im Krieg
und trug doch an jedem Toten Schuld.
Lauf jetzt, lauf, wie du noch nie gelaufen
von Odessa bis nach Schöneweide.
Wenn du einmal stirbst, kannst du verschnaufen.
Er ist tot. Ich singe für uns beide.
Aus: Henry-Martin Klemt: „Wurzelland.wo“, Books on Demand 2016, ISBN 978-3-7392-2713-9.
Schlagwörter: Henry-Martin Klemt, Krieg