20. Jahrgang | Nummer 9 | 24. April 2017

Selbstbeköstigung

von Dieter Naumann

„Für nöthige Bedürfnisse des Lebens war theils in den Sagardschen, zum theil neu angelegten Küchengarten, theils von dortigen schlachtenden Einwohnern und theils durch besprochene Zufuhr, von andern benachbarten Orten her, eben so, wie für Quartiere, Speise-Häuser und manche andere nöthige Dinge, gesorget, wohin vorzüglich allerlei Sorten Weine gehören, so daß man nirgends Klagen des Mangels, des Schlechten, oder der Theuerung hörte.“ Dieses Fazit konnte Landphysikus Willich im März 1796 in der in Rostock, Stralsund und Greifswald vertriebenen Neuere(n) Nachricht vom Gesundbrunnen zu Sagard nach einem Jahr Badebetrieb im ersten rügenschen Bad ziehen. Da Willich zugleich auf „wenigstens“ fünf Häuser verweisen konnte, in denen „3 bis 5 Stuben, einige Kammern, Küche und durchaus alle nöthige Gemächlichkeiten angetroffen werden“, ist zu vermuten, dass schon damals einige Familien darauf verzichteten, die durch „Speisewirthe“ angebotenen „5, 4 und 3 Schüsseln“ zu Mittag und eine Schüssel weniger am Abend zu nutzen und sich stattdessen lieber selbst versorgten. „Selbstbeköstigung“ nannte man das später, auch „Eigenwirtschaft“.
Die Gründe, weshalb Badegäste auch im Urlaub nicht auf Einkauf, Kochen und Abwasch verzichten wollten oder konnten, waren unterschiedlich. Anfangs dürften ganz einfach die Restaurants oder Hotels nicht zur Verfügung gestanden haben, die bestehenden Krüge waren nicht immer empfehlenswert und das Essen in den Privatunterkünften zumindest gewöhnungsbedürftig. So kann man wohl Ernst Moritz Arndt interpretieren, der um 1825 Henriette Schleiermacher (1788–1840) schrieb: „Zum Kostgange würde ich nicht rathen: denn wenn man da nicht mit vorzüglich frischen und freien oder ganz einfältig treuen Leuten zu thun hat, so ist das immer ein verzwicktes Ding.“ Auch der Naturforscher und Historiker Ernst Boll (1817–1868) warnte später, man dürfe an die Kochkunst seiner Wirtsleute keine größeren Anforderungen stellen. Allerdings stieß die Selbstversorgung vor Ort hin und wieder auf Schwierigkeiten. Arndt schrieb weiter, auf Mönchgut könnte es „vielleicht mit dem leichten Zugange zu den nothwendigen Lebensmitteln“ hapern. Für Wittow empfahl er, „vielen Proviant, Zucker Kaffee The Wein (Fische giebt das Ländchen) […] aus Stralsund gleich ganz bequem bis Brege mit(zu)nehmen“. In Putbus und den umliegenden Dörfern würden die Preise für Lebensmittel, Dienste et cetera im Allgemeinen nicht mehr mit der alten rügenschen Unschuld gemacht.
1858, die Hotels, Pensionen und Gasthöfe begannen sich zu entwickeln, registrierte Ernst Boll in Sassnitz und Crampas, dass „Familien, welche Dienstboten mitbringen, […] sich selbst zu beköstigen (pflegen), indem sie ihre eigene Wirtschaft sich einrichten; das notwendigste Küchen- und Tafelgeschirre finden sie jetzt schon in den meisten Wohnungen vor, nur Messer und Gabeln, sowie silberne Löffel bringt man am besten selbst mit. Milch, Butter und Kartoffeln sind an Ort und Stelle zu haben, anderes Gemüse wird aber weder dort gebauet, noch bietet sich anderweitig Gelegenheit, es zu bekommen. Denn die Gartencultur ist hier noch ganz in der Kindheit […] Frisches Gebäck wird täglich, frisches Fleisch sehr häufig aus dem eine Meile entfernten Flecken Sagard zum Verkaufe angeboten. Eier, Geflügel und Obst lassen sich gleichfalls herbeischaffen; auf Fisch darf man (obgleich unmittelbar am Meere wohnend) nicht allzu sicher rechnen, da die Badezeit leider die ungünstigste Zeit für den Fischfang ist […] Colonialwaaren und andere kleine Wirthschaftsbedürfnisse kann man jetzt schon in Sassnitz erhalten, wo eine Sagarder Handlung beim Schulzen eine Commandite (Niederlassung – D.N.) errichtet hat.“
Wer also auf die Pension, das heißt die (Voll-) Verpflegung, die Anlieferung von Gaststättenessen mit Menagen oder den Gaststättenbesuch verzichten wollte oder aus finanziellen Gründen musste, konnte sich in Logierhäusern und Hotels auch ohne „Beköstigung“ einmieten. In einem von der Badeverwaltung in Göhren 1903 herausgegebenem Prospekt heißt es: „Solche (Badegäste – D.N.), welche sich selbst zu verpflegen wünschen […], finden in einem grossen Teil von Logirhäusern Wohnungen mit Küchen, meist mit voller Kücheneinrichtung; bei verschiedenen derartigen Wohnungen werden jedoch Betten nicht geliefert.“ Der Reiseführer von Volckmann von 1913–1914 vermerkt für Binz, dass „auch bequem eigener Haushalt geführt werden (kann), […] wodurch sich der Aufenthalt entsprechend billiger stellt“.
In Binz zahlte man um 1910 für zwei Zimmer mit Küche in einem Logierhaus oder einer Privatwohnung ab 35 Mark die Woche, ohne Pension. Für Pension wurden pro Tag und Person in der gleichen Kategorie von Unterkünften etwa 3 bis 5 Mark berechnet, der Preis für ein Zimmer mit Pension begann bei etwa 5 Mark pro Tag. Neben den so genannten „Küchenwohnungen“ wurden vielfach auch „Wohnungen mit Küchenbenutzung“ angeboten. „Bei den Küchen verstehen sich die Preise größtenteils ausschließlich Brennmaterial“, heißt es in einer Broschüre der Badedirektion von Sellin aus dem Jahre 1911, „jedoch einschließlich Benutzung des Koch- und Essgeschirrs. Mitbringen der Bestecke und eventl. genaue Vereinbarung betreffs dieser Punkte ist empfehlenswert.“ Dagegen vermerkte die Badedirektion von Binz in ihrem 1912 herausgegebenen Führer durch das Ostseebad Binz: „Geschirr usw. wird verabfolgt gegen entsprechende Vergütung.“
Waren es anfangs nur „Landleute“, die täglich ihre Produkte vermutlich an „fliegenden“ Ständen anboten, kann 1908 für Binz darauf verwiesen werden, dass in der mitten im Ort gelegenen, 1901 eröffneten Markthalle schon 16 Stände unter anderem an fünf Gärtner und zwei Schlächter verpachtet waren und eine Reihe von „Kaufmannsgeschäften […] den Ort mit vielerlei Delikatessen, Material- und Kolonialwaren (versieht)“; unter anderem war auch „Dr. Eichloff’s Rohmilch von gesunden Kühen, nach dem Dr. Eichloff-Schümannschen Milchgewinnungsverfahren, D. R. P.“, erhältlich. Hinsichtlich der Markthallenpreise heißt es im 1912 herausgegebenen Führer durch das Ostseebad Binz, es handele sich um „Berliner Preise. Alle Waren überhaupt sind nach großstädtischen Preisen berechnet, Kleinstadtpreise können hier um so weniger genommen werden, als es sich lediglich um ein Saisongeschäft handelt, in dem die Unkosten für den Kaufmann und Inhaber bedeutend höher sind als bei einem Jahresbetrieb in einer Stadt.“
Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse der Gewerbezählung von 1925 (1936 durch A. Raetz veröffentlicht und interpretiert). Demnach gab es zu dieser Zeit auf Rügen unter anderem 93 Bäckereien mit 864 Beschäftigten, neun Konditoreien mit 70 Werktätigen, 86 Fleischereien mit 268 Arbeitern und einen Betrieb der Fleischwarenindustrie mit 17 Arbeitskräften, weiterhin 18 Betriebe der Fischindustrie mit 83 Arbeitnehmern, 18 Molkereien und Betriebe der Butter- und Käseherstellung mit 86 Mitarbeitern, zur Herstellung von künstlichem Mineralwasser gab es vier Betriebe mit acht Beschäftigten, ein Betrieb mit einem Arbeiter stellte Zigarren her.
Die Einsparungsmöglichkeiten durch Selbstbeköstigung hatten freilich auch ihre Grenzen. So war in Sellin um 1911 „die Verwendung von Spiritus- und Petroleumkochern auf den Zimmern […] wegen Feuersgefahr verboten“. Das galt ebenso für Binz, wo außerdem auch das Waschen und Plätten auf den Zimmern und das Trocknen der Wäsche auf den Balkons „unter keinen Umständen gestattet“ war.
20 Jahre später hatten sich die Zeiten und die technischen Möglichkeiten geändert: Die Badeverwaltung von Göhren empfahl um 1931, „sich elektrische Kochapparate für 220 Volt Wechselstrom mitzubringen, da der Elektrizitätspreis mit 15 Rpfg. für eine Kilowattstunde des Selbstkochen wirtschaftlich gestaltet“.
Heutzutage findet „Selbstbeköstigung“ in Ferienwohnungen und Ferienhäusern oder auf dem Campingplatz statt.