von Ulrich Frey
Was Gegenstand der Auseinandersetzung um den Doppelbeschluss der NATO vom 12. Dezember 1979 in Europa gewesen ist, zeichnet der Historiker Jan Ole Wiechmann in seinem Buch „Sicherheit neu denken – die christliche Friedensbewegung in der Nachrüstungsdebatte 1977–1984“ auf 465 Seiten präzise nach. Er untersucht die Konzepte und das Agieren der christlichen Gruppen der Friedensbewegung als ihren Beitrag zu den politischen, gesellschaftlichen und sozialkulturellen Veränderungen dieser Zeit. Deren zentrales Thema war die Realisierung einer „gemeinsamen Sicherheit“ als Voraussetzung für Frieden in Europa. Wer den Text und die Anmerkungen dazu liest, entdeckt ganz aktuelle Debattenstränge in der Auseinandersetzung um Rüstung, Atomwaffen und Abschreckung. Aus dieser früheren Debatte können wir heute lernen.
Das Buch kommt zur rechten Zeit, weil es darlegt, wie eine Friedensbewegung, die ihr politisches Ziel, die Verhinderung der „Nachrüstung“ nicht erreicht hat, dennoch bis heute wirksame Veränderungen der Sicherheitspolitik leistet. Der Autor rekonstruiert das Sicherheitskonzept der neuen Friedensbewegung und verortet sie in der Geschichte ihrer Zeit. Er diskutiert Sicherheit im Zusammenhang mit Werten wie Freiheit, Demokratie und Rationalität. Er analysiert auch den Begriff der Sicherheit als einen „Epochenindikator“.
Zentral ist die Erforschung der Motive und Handlungsweisen von acht Organisationen der christlichen Friedensbewegung, der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) und der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF), die die erste Großdemonstration und Kundgebung mit 300.000 (nicht 250.000 wie der Autor schreibt) Teilnehmenden im Bonner Hofgarten am 10. Oktober 1981 verantworteten. Untersucht werden auch Ohne Rüstung leben, die Evangelischen Studentengemeinden, Pax Christi, die Initiative Kirche von unten, der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) und die Gruppe „Schritte zur Abrüstung“. Diese Gruppen und Organisationen agierten interkonfessionell und wahrhaft ökumenisch. Sie waren nicht auf ihre Kirchen fokussiert, sondern arbeiteten mit säkularen Initiativen, Institutionen und Einrichtungen zusammen. Sie kooperierten mit gleich gerichteten Initiativen in Europa und dem „anderen Amerika“ in den USA sowie mit den Kirchen in der DDR, insbesondere seitens der christlichen Gruppen. Das machte in der Summe ihre gesellschaftliche und politische Wirkung in die Breite und die Tiefe aus. Schätzungen zufolge existierten 1983 in der Bundesrepublik vier- bis sechstausend regionale oder örtliche Friedensinitiativen, die zusammen mit den überregional tätigen Initiativen eine lebendige Infrastruktur ausbildeten. Das zentrale Organisationszentrum war der Koordinationsausschuss der Friedensbewegung in Bonn mit bis zu 30 Organisationen aus verschiedenen „Spektren“, der die Großaktionen der Friedensbewegung organisierte. Kritisch gegenüber der Friedensbewegung stellte sich die Organisation „Sicherung des Friedens“ auf.
Fünf Kapitel gliedern das Buch: Sicherheitspolitik in der Krise: Der NATO-Doppelbeschluss und die neue Friedensbewegung (1977–1984); Sicherheit in traditioneller Perspektive: Die christliche Friedensbewegung und der Ost-West-Konflikt; Sicherheit in neuen Dimensionen: Die christliche Friedensbewegung und der erweiterte Sicherheitsbegriff; Neue Konsensformeln? Sicherheitspartnerschaft und ‚Gemeinsame Sicherheit‘; Sicherheit neu denken: Die christliche Friedensbewegung als Manifestation eines Modernitätskonfliktes. Die Friedensbewegung war in Sachen Abrüstung sachkundig und mischte sich in die politische Debatte zu Abrüstungsstrategien gegen die Politik der Abschreckung mit Positionen der unilateralen und graduellen Abrüstung ein. Friedensethisch vertraten sie mehrheitlich einen Nuklearpazifismus. Die christlichen Gruppen orientierten sich am „Nein ohne jedes Ja zu den Massenvernichtungswaffen“ des Interkirchlichen Friedensrates (IKV) in den Niederlanden und niederländischer Kirchen. Themen der friedenspolitischen Diskussion über die Jahre waren unter anderen das Verständnis von erweiterter Sicherheit unter Einschluss der Probleme der Südländer, der Rüstungsexporte, der Atomkraft und der Ökologie, die Überwindung des „Anti-Kommunismus“ als gesellschaftliche politische Denkmuster, die Erziehung zum Frieden und die „intelligente Feindesliebe“, die Neutronenwaffen, „Airland Battle“, atomwaffenfreie Zonen, die strukturelle Nichtangriffsfähigkeit, die soziale Verteidigung sowie die „Sicherheitspartnerschaft“. Die christlichen Gruppen der Friedensbewegung folgten in Anlehnung an die DDR-Kirchen der „Absage an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung“. Die unter Mitwirkung von Olof Palme entwickelte Konzeption der „gemeinsamen Sicherheit“ und der „Sicherheitspartnerschaft“ war die politische Maxime der christlichen Gruppen der Friedensbewegung.
Am Ende seiner Ausführungen stellt Wiechmann die These auf, die „analysierten Sicherheitskonzepte“ der Friedensbewegung seien „als Folge und und als Gegenentwurf fortschreitender Modernisierung und damit als eine Manifestation des Modernitätskonfliktes“ zu charakterisieren. Aspekte dazu seien die differenzierte Wahrnehmung von Bedrohung, Risiko und Gefahr im Gegensatz zur Bundesregierung und der NATO, die Demokratisierung der Sicherheitspolitik im Atomzeitalter als sicherheitspolitische „Gegenöffentlichkeit“, die wechselseitige Beziehung von Sicherheit und Freiheit gegen ihre Trennung, die Kritik an der „Abkoppelung der technisch orientierten naturwissenschaftlichen Forschung von den Zielen und Folgen politischen Handelns“, Verständnis von Politik und Glauben gemäß der Bergpredigt als „Vernunft des Überlebens“ und schließlich die „Utopie der Weltgesellschaft“ im konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung.
Wiechmann attestiert der christlichen Friedensbewegung trotz politischen Scheiterns „Ausdruck und Katalysator allgemeiner gesellschaftlicher und sozialkultureller Entwicklungen in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren“ zu sein. Sie habe die „an Gewaltminderung orientierte Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland erheblich“ stabilisiert. Sie habe „die Rationalität des atomaren Gleichgewichts und die darauf gründenden militärischen Strategien mit einer Nachhaltigkeit“ erschüttert, „die deren Legitimation wohl auf Dauer zerstörte“. Was die positiven gesellschaftlichen und politischen Effekte der sicherheitspolitischen Debatte betrifft, so sei die Friedensbewegung „erfolgreich gescheitert“.
Mit seiner Analyse trifft Wiechmann die Wahrnehmung des Großteils der breiten Friedensbewegung, nicht nur ihres christlichen Teils. Die christlichen Gruppen der Friedensbewegung der 1970er und 1980er Jahre haben den Grund gelegt für die ökumenischen Fortschritte der Friedensethik in der Dekade zur Überwindung von Gewalt (2000–2010) und das Leitbild des gerechten Friedens. Ohne die Initiativen der damaligen Friedensbewegung gäbe es heute keinen Zivilen Friedensdienst und keine etablierte, aber immer noch zu schwache zivile Konfliktbearbeitung. Die aktuelle Diskussion zu „Friedenslogik statt Sicherheitslogik“ hat ihre Wurzeln in dem Engagement der früheren Friedensbewegung. Wer das Buch mit Blick auf die gegenwärtigen außen- und sicherheitspolitischen Probleme liest, hat ein déjà-vu-Erlebnis: Er wird unübersehbare Parallelen der Analyse, der Bewertung und des Handelns zur heutigen Situation feststellen. So ermutigt Jan Ole Wiechmann heute dazu, die Maxime der gemeinsamen Sicherheit erneut zu einem Kern aktueller Außen- und Sicherheitspolitik zu erheben.
Ulrich Frey – 1972–2000 Geschäftsführer der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) – lebt in Bad Honnef/Rhein und arbeitet ehrenamtlich in kirchlichen Friedensorganisationen.
Jan Ole Wiechmann: Sicherheit neu denken. Die christliche Friedensbewegung in der Nachrüstungsdebatte 1977–1984, Nomos-Verlag, Baden-Baden 2017, 465 Seiten, 84,00 Euro.
Schlagwörter: christliche Gruppen, Friedensbewegung, Jan Ole Wiechmann, NATO-Doppelbeschluss, Ost-West-Konflikt, Ulrich Frey