von Pearl Ann Ziegfeld
„Du änderst die Welt nicht, indem du tust, was man dir sagt.“ Unter dieser Überschrift hat das MIT Media Lab, eine unkonventionelle Fakultät am Massachusetts Institute of Technology (MIT), kürzlich einen Preis für Ungehorsam ausgelobt. Mit 250.000 Dollar soll belohnt werden, dass ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen ein persönliches Risiko eingingen, um der Gesellschaft einen Dienst zu erweisen. Einzige Voraussetzung an die etwaig Nominierten ist, dass sie gewaltfrei handelten, kreativ und mutig vorgingen und der Gesellschaft einen außerordentlichen Dienst erwiesen. Die Staatsbürgerschaft ist kein Kriterium, auch die Gesellschaft ist nicht auf eine Nation begrenzt. Nominierungen sind online bis zum 1. Mai 2017 möglich.
Dieser Preis ist nicht nur originell und gut dotiert. Er setzt vor allem ein Zeichen. Er drängt zur Stellungnahme, was wir als Dienst an einer Gesellschaft begreifen, auch wenn dieser Dienst durch einen Regelbruch zustande kam.
Verdient ihn Chelsea Manning? Sie hatte (damals noch der Soldat Bradley Manning) jede Menge elektronische Dokumente aus dem Feldzug der USA gegen Afghanistan und Irak gestohlen und Wikileaks übergeben. Dank ihr konnte der Mord an Zivilisten, darunter zwei Angestellten von Reuters durch Militärs der USA in Bagdad bewiesen werden. Verdient ihn Edward Snowden, der dank der mutigen Entscheidungen von Medien die Öffentlichkeit über das extensive NSA-Ausspähprogramm informierte? Sollte er dem bisher unbekannten CIA-Whistleblower zugeeignet werden, der über Wikileaks enthüllte, dass die CIA einen ganzen Werkzeugkasten von Hackertools besitzt, die im schlimmsten Fall (durch die Manipulation eines Autos) jemanden das Leben kosten können? Verdient ihn Wikileaks selbst, das mit seinem radikalen Transparenzansatz beispielsweise im Sommer 2016 die Machenschaften innerhalb der Demokratischen Partei zu Lasten des Präsidentschaftsbewerbers Bernie Sanders enthüllte? Heute ist Sanders der beliebteste Politiker in den USA. Verdienen ihn die Forscher, die am Projekt „Pleistozän-Park“ arbeiten, seit 1977 im sibirischen Permafrost, um die massenhafte Freisetzung von CO2 aufgrund der Erderwärmung zu stoppen?
Wären Seymour Hersh oder Jeremy Scahill gute Kandidaten? Beide haben Verbrechen aufgedeckt. Beide stellen höchst unbequeme Fragen, machen Recherchen, die nicht in das Bild der sogenannten Mainstream-Medien passen. Wäre Laura Poitier, die einen Film über Snowden machte, eine Preisanwärterin? Oder Glen Greenwald? Immerhin erhielten sie sogar Auszeichnungen für ihre Arbeiten. Ist das der Ungehorsam, den das MIT Media Lab meint?
Verdienen Menschen diesen Preis, die sich in den Krisen- und Kriegsgebieten dieser Welt engagieren, um Menschenleben zu retten, so wie die „Ärzte ohne Grenzen“? Oder diejenigen, die im Mittelmeer nach schiffbrüchigen Flüchtlingen suchen, weil sie in ihnen vor allem Menschen sehen und nicht Ballast oder gar Gefährder für westliche Gesellschaften?
Das MIT Media Lab hat einen subversiven Preis ausgelobt. Er zwingt uns zu einer Antwort auf die Frage, was in einer Demokratie ein persönliches Risiko darstellt. Ist es die drohende Gefängnis- oder gar Todesstrafe? Ist es der potenzielle Verlust an Beschäftigungsmöglichkeiten? Sind es gesellschaftliche Ausgrenzung oder persönliche Diffamierung („Verschwörungstheoretiker“, „Putin-Agent“, „unamerikanisch“, „Verräter“ „senil“)? Oder die mögliche künftige andauernde Bespitzelung durch Geheimdienste? Wie viele Politiker oder Unternehmen fallen einem spontan ein, die den Kriterien dieses Preises genügen?
Jeder, der Kandidaten nominiert, muss derartige Fragen für sich beantworten. Die Auslobung schließt aus, dass dieser Preis nur Widerständlern zugeeignet werden könnte, die in einem autokratischen oder diktatorischen Umfeld leben und sich dennoch nicht mundtot machen lassen.
Damit legt das MIT Media Lab den Finger in eine Wunde, die auch in Demokratien offen klafft: Ziviler Ungehorsam ist weder gern gesehen noch wird er normalerweise belohnt. Er wird im besten Fall ignoriert oder als unnötige Störung betrachtet, im schlimmsten Fall als Verrat gebrandmarkt. Im letzteren Fall ist größte Aufmerksamkeit sicher (aber auch mit der größtmöglichen Feigheit zu rechnen, sich Neuem oder Unbequemem zu stellen).
Gemäß der Ausschreibung geht es um die Verteidigung von Menschenrechten, um die Redefreiheit, um zivile Grundrechte, um Wissenschaft und die Freiheit zu Innovationen.
Man darf auf die Vorschläge gespannt sein, die das MIT Media Lab erhält. Welche davon werden wohl aus der EU stammen? Im Juli 2017 werden der oder die Preisträger bekannt gegeben.
Schlagwörter: MIT Media Lab, Pearl Ann Ziegfeld, Whistleblower, Zivilcourage