20. Jahrgang | Nummer 7 | 27. März 2017

17. Juni 1970 – Juso-Delegation bei Walter Ulbricht

von Karsten D. Voigt

Dieser Bericht wurde am 17. Dezember 2012 aufgrund der im „Archiv der sozialen Demokratie“ in Bonn aufbewahrten Unterlagen erstellt. Er sollte ursprünglich in dem 2013 von Egon Krenz herausgegebenen Buch über Walter Ulbricht erscheinen. Da der Text nach Krenzʼ Auffassung nicht in den Kontext dieses Bandes passte, wurde jedoch auf den Abdruck des Beitrags verzichtet.

Nach der „Linkswende“ der Jungsozialisten auf ihrem Münchener Bundeskongress im Dezember 1969 sah der neugewählte Bundesvorstand die Kontaktaufnahme zu den kommunistischen Jugendorganisationen in der Sowjetunion, Polen, Ungarn und der DDR als vorrangig an. Die Jungsozialisten wollten Vorreiter der von Willy Brandt begonnenen Entspannungspolitik sein. Deshalb entsandten sie bereits im Jahre 1970 Delegationen zu den vier oben genannten Jugendorganisationen. Da für mich die Ost- und Entspannungspolitik der entscheidende Grund war, ein Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer der SPD beizutreten, habe ich als damaliger Bundesvorsitzender der Jungsozialisten alle vier Delegationen selber geleitet.
Der Besuch einer Delegation des Bundesvorstandes der Jusos vom 14. bis zum 18. Juni 1970 bei der FDJ war von beiden Seiten sorgfältig vorbereitet worden. Aus den Akten der FDJ ergibt sich, dass bei der Vorbereitung des Besuches zu keinem Zeitpunkt von der Möglichkeit eines Gespräches mit Walter Ulbricht ausgegangen worden war. Aus Gesprächen, die ich nach der Wende mit dem Mitglied des Staatsrates Gerald Götting führte, ergab sich, dass er sehr kurzfristig zu dem Treffen im Gebäude des Staatsrates eingeladen worden war. Über den Kontext des Gespräches waren Götting und wohl auch die anderen Teilnehmer nicht informiert worden. Während des Gespräches ergriff – außer Walter Ulbricht – keines der Mitglieder des Staatsrates das Wort. Anwesend waren noch der Staatssekretär für westdeutsche Fragen, Joachim Herrmann, der Kandidat des ZK Heinz Geggel und die FDJ-Funktionäre Siegfried Lorenz, Günther Jahn und Erich Rau.
Das Gespräch dauerte gut zwei Stunden. Überwiegend redete Walter Ulbricht. Ich antwortete ihm mehrfach und unterbrach ihn einige Male, weil dies die einzige Möglichkeit war, ihm unsere unterschiedlichen Auffassungen darzulegen.
Ulbricht sprach über seinen Lebensweg und die Jugend- und Bildungspolitik der DDR, die im Vergleich zur Leistungsfähigkeit der DDR viel zu hohe Kosten verursacht habe, aber die konsequente Durchsetzung der Ziele der Arbeiterbewegung auf diesem Gebiet bedeute.
Ich meinte in meiner Antwort, dass ich die SPD in der Tradition der deutschen Arbeiterbewegung sähe. Ich kritisierte die leninistische Parteitheorie und die „Partei des neuen Typs“ und betonte, dass es nicht nur bedeutsam sei, die Macht für die Arbeiterklasse zu gewinnen, sondern auch, in welcher Weise sie gewonnen und mit welchen Methoden sie zu welchen Zwecken verwandt würde. Anschließend verteidigte ich die Ostpolitik der Regierung Brandt als Fortschritt. Bei den bestehenden Kräfteverhältnissen müsse man sehr vorsichtig sein, so habe beispielsweise die Springer-Presse vorzeitig das Bahr-Papier veröffentlicht. (Am 12.6.1970 hatte Bild Texte aus den geheimen Verhandlungen Egon Bahrs in Moskau über ein Gewaltverzichtsabkommen abgedruckt – K.V.). Ulbricht fragte daraufhin, ob man eine Koalition mit Springer wolle oder mit dem Volk. Die Bundesregierung wolle die Grenzbeziehungen lockern. Hier sage die DDR ganz klar: Wer sich an der Staatsgrenze zu schaffen mache, der werde vernichtet. Im weiteren Verlauf des Gespräches meinte Ulbricht, Politiker wie Franz-Josef Strauß wollten das Gegenteil von Frieden, räumte jedoch ein, dass die politische Großwetterlage dem entgegenstehe. Allerdings habe auch Helmut Schmidt sehr bedenkliche Pläne, man wolle allerdings nicht, dass Willy Brandt abgesetzt wird. Die SPD sei insgesamt zu schlapp gegenüber den konzentrierten Angriffen von Springer, CDU und NPD. Darüber hinaus sei die Politik der BRD abhängig von den USA. Ich wies daraufhin auf die 20 Punkte von Kassel hin und sagte, dass ich nicht verstünde, warum die DDR darauf nicht eingegangen sei (Am 21.5.1970 fand in Kassel das zweite Treffen zwischen Bundeskanzler Willy Brandt und dem Vorsitzenden des Ministerrates Willi Stoph statt. Am Vortage hatte das Bundeskabinett 20 Punkte zur Deutschlandpolitik beschlossen – K.V.). Ulbricht meinte, diese zwanzig Punkte seien „sehr schlau gemacht“ und für sehr naive Gemüter geschrieben. Er interpretiere sie als eine Art Zeitplan: Wenn eins erfüllt ist, dann zwei usw. Ich verteidigte erneut die zwanzig Punkte.
Ulbricht kritisierte weiter den „eigenartigen Glauben“ des Westens an die Nation. Die DDR sei die Wahrerin der positiven Werte der Nation. Zur Berlin-Frage: West-Berlin sei eine imperialistische Macht inmitten der DDR. Ich entgegnete, ich hielte die DDR-These von West-Berlin auf dem Territorium der DDR für gefährlich. Die Politik der DDR in Bezug auf West-Berlin schade den Sozialisten in der Bundesrepublik. In den Münchener Beschlüssen der Jungsozialisten von 1969 würde der Status quo anerkannt. Das sei eine Voraussetzung für die Sicherung des Friedens. Wenn aber die DDR nicht auf der Basis des Status quo argumentiere, sondern an ihrer rechtlichen Auffassung festhalte, dann müssten die Jusos von ihren Beschlüssen abrücken, Ost-Berlin als faktischen Teil der DDR anzuerkennen. Warum spreche die DDR nicht auch hier die Realität an, dass West-Berlin vom Territorium der DDR umgeben sei.
Ulbricht antwortete daraufhin: Hierauf fallen wir nicht herein. Die Kommunisten lernen aus der Geschichte. Er verwies auf die Rolle des Danziger Korridors zu Beginn des Zweiten Weltkrieges. Die DDR könne in Bezug auf West-Berlin ganz beruhigt sein: „Die müssen mit uns verhandeln.“ Vertragliche Abmachungen gebe es nur für den Transport von alliiertem Personal und Gütern. Die DDR habe wegen ökonomischer Schwierigkeiten die Grenze schließen müssen.
Wie habe ich damals das Gespräch und dessen Inhalt bewertet? Ich hatte in den Jahren vor diesem Treffen mehrfach mit Herbert Wehner und anderen ehemaligen Kommunisten, die Ulbricht aus der Zeit des Moskauer Exils oder sogar noch aus der Weimarer Zeit her kannten, über ihn und die damaligen Argumentations- und Verhaltensweisen in der KPD gesprochen. Walter Ulbricht kam mir wie ein Vertreter der kommunistischen Arbeiterbewegung vor, der uns jungen Sozialisten deutlich machen wollte, warum er die SPD verließ und zur KPD ging. Immer wieder sprach er diesen Kontext an, wenn er über außen- und deutschlandpolitische Probleme sprach. In manchen Augenblicken schien er um Verständnis für diesen Schritt zu werben. In anderen Augenblicken vermittelte er bei mir den Eindruck, als wolle er bei uns darum werben, den gleichen Schritt zu gehen. In jedem Augenblick aber hörte er sich an, als sähe er sich selber als deutschen Patrioten. Dem widersprach aus seiner Sicht nicht, dass er mit seinem Vergleich von Danzig und West-Berlin als potenzielle Ursache eines Weltkrieges von uns Jungsozialisten sofort eine völlig ablehnende Reaktion provozierte.
Zu erwähnen bleibt, dass meine Entscheidung, die Einladung zu dem Gespräch mit Ulbricht anzunehmen, zu erheblichen Spannungen innerhalb des Juso-Bundesvorstandes und mit der Führung der SPD führte. Für mich war es im Rahmen der von der SPD und den Jusos gleichermaßen angestrebten neuen Ostpolitik selbstverständlich, dass, wenn das Staatsoberhaupt des von uns als Realität anerkannten Staates, in dem wir uns im Rahmen einer offiziellen Delegation aufhielten, uns zu einem Gespräch einlud, wir diese Einladung annahmen. Der Parteivorstand und die Mehrheit des Bundesvorstandes der Jusos waren anderer Meinung.
Der Vertreter des SPD-Parteivorstandes Klaus Flegel und der stellvertretende Bundesvorsitzende der Jungsozialisten Norbert Gansel – beide reisten zu diesem Zwecke eigens nach Ost-Berlin – versuchten vergeblich, mich von meiner Zusage abzubringen. Klaus Flegel sagte mir, dass die SPD-Führung auch deshalb gegen meinen Besuch bei Walter Ulbricht sei, weil entscheidende Abstimmungen im Bundestag anstünden. Die SPD-Führung befürchte, dass angesichts der knappen Mehrheiten für die sozialliberale Koalition einige FDP-Abgeordnete den Besuch bei Ulbricht zum Vorwand für eine Stimmabgabe gegen die Koalition nehmen würden. Norbert Gansel argumentierte damit, dass die Mehrheit der Mitglieder des Bundesvorstandes, die in der Bundesrepublik verblieben waren, für eine Absage des Besuches einträten.
Dass ich den Konflikt mit der Parteiführung und mit der Mehrheit des Bundesvorstandes der Jungsozialisten in Kauf nahm, war ein entscheidender Grund dafür, dass Norbert Gansel Ende 1970 gegen mich als Bundesvorsitzenden der Jusos kandidierte. Hans-Jürgen Wischnewski, der damalige Bundesgeschäftsführer der SPD, drohte mir nach meiner Rückkehr nach Bonn mit einem Ausschluss aus der SPD. Aber er und auch Willy Brandt haben es dann doch mit einer Kritik an meinem Verhalten bewenden lassen.
Ein Punkt, der auch mich anfangs bei der Annahme der Einladung von Ulbricht zögern ließ, war das Datum des geplanten Gespräches: Es fiel auf den 17. Juni, den 17. Jahrestag des Aufstandes in der DDR. Ich selber hatte als Schüler in einer Klasse, in der fast die Hälfte Flüchtlinge aus der DDR waren, für die Erinnerung an diesen Aufstand demonstriert. Mir war also die symbolische Bedeutung des Tages durchaus bewusst. Aber mir waren praktische Schritte zur Verringerung der deutsch-deutschen Teilung wichtiger als die Empörung gegen deren Symbole.