von Petra Erler
Die Staats- und Regierungschefs der EU trafen während des Gipfels im Dezember mit dem Bürgermeister von Ost-Aleppo, Brita Hasan, zusammen. Auch die Bundeskanzlerin zeigte sich in der nächtlichen Pressekonferenz über diese Begegnung sichtlich erschüttert. Wer ist Brita Hasan, der Mann, der einer humanitären Katastrophe ein Gesicht gab? Dies ist eine Spurensuche.
Sie beginnt mit einer Erinnerung: 2012 wurde Aleppo zweigeteilt. Der Westteil der Stadt blieb unter Regierungskontrolle. Den Ostteil nahmen Kämpfer der Freien Syrischen Armee und andere bewaffneten Gruppen ein. 2016 beherbergte die einstige 2,3-Millionen-Metropole noch geschätzte 1,5 Millionen Menschen im Westteil der Stadt, und angebliche 250.000 bis 350.000 Menschen im Ostteil. (Im Dezember lebten laut Zeit weniger als 100.000 Menschen im Osten Aleppos.)
Nach einer Analyse der Carnegie-Stiftung entstand Anfang August 2016 eine militärische Pattsituation: beide Stadtteile waren gleichermaßen belagert. Daraus schlussfolgerte damals die Carnegie-Stiftung, dass Assad und seine Verbündeten diesen Zustand nur über einen Angriff überwinden könnten, es sei denn, es käme zu einer politischen Lösung, die eine Schlacht um die Stadt vermieden hätte. Tatsächlich hatte der Ostteil Aleppos am 1. August „zum Kampf auf Leben und Tod“ begonnen und versucht, die Macht über den Westteil Aleppos zu erlangen. Diese Militäraktion endete im Patt. Initiativen zur Schaffung humanitärer Fluchtkorridore, die erste am 28. Juli, scheiterten. Eine politische Regelung scheiterte. Der „Fall Aleppos“ im Dezember 2016 bedeutete, dass Assad mit Hilfe seiner Verbündeten vor allem mittels schwerer Luftangriffe die Kontrolle über Ost-Aleppo wiedereroberte. „Wiedererobert“ wird hier bewusst geschrieben, denn diese Sprachregelung wendete die Zeit an, als sie vom erneuten Fall Palmyras an den IS im Dezember 2016 berichtete. Die durch die Zeit verwendete Formulierung geht auf die „syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte“, die in London sitzt, zurück.
In Ansätzen lässt sich erkennen, wer alles in Ost-Aleppo regierte. Es gab einen Militärrat der aufständischen Freien Syrischen Armee, zunächst unter Leitung von Oberst Agedi. (Dieser soll sich 2014 den Kurden im Kampf gegen den IS angeschlossen haben.) Gleichzeitig gab es die islamistische Liwa al-Tawhid Brigade. Diese soll von Frankreich, der Türkei und Quatar finanziert worden sein. Es gab Al Nusra. Im Pressebriefing des Pentagon vom 20. April 2016 erklärte Oberst Warren, dass im wesentlichen Al Nusra (bis Juli 2016 offiziell mit Al Kaida verbündet, dann abtrünnig geworden und umbenannt) Ost-Aleppo halte. Auch der Bruch und die Umbenennung, so ein US- Regierungssprecher damals, ändere nichts am terroristischen Charakter der Organisation.
Im Arte-Interview vom 30. November bestritt Brita Hasan, dass Al Kaida in Ost-Aleppo wäre.
Der IS stieß im Frühjahr 2013 in die Provinz Aleppo und nach Ost-Aleppo vor. Glaubt man einem Blog eines syrischen Oppositionellen, der bei freehalab.wordpress bis Dezember 2016 zugänglich war, hat der IS in Ost-Aleppo eine Salami-Taktik angewandt und sich zunächst „nur“ mit der Einführung der Scharia-Gerichtsbarkeit „begnügt“ und „Familienfeste“ organisiert, die auf die Rekrutierung von Kindersoldaten zielten. Später wurden populäre Einwohner von Aleppo, die eindeutige Gegner von Assad aber auch des IS waren, durch den IS ermordet. Die Fahnen des Militärrats und des IS wären Seite an Seite bei Demonstrationen aufgetaucht, so der Blogger, der seit 2014 schweigt.
In dieser Gemengelage soll sich 2013 der Stadtrat von Ost-Aleppo gegründet haben. Er sieht sich als einzige legitime demokratisch gewählte Bürgervertretung. Seit 2013 unterhält er eine freundschaftliche Beziehung zum französischen Metz. Der Vorsitz dieses Stadtrates wechselt offenbar jährlich.
Auf youtube stößt man auf ein Video vom Dezember 2015, das den Stadtrat von Ost-Aleppo vorstellt, nunmehr unter Führung von Brita Hasan, der im November 2015 gewählt worden sei. Über die Umstände der Wahl gibt es keine Informationen. Auch nicht, wie er sich finanziert. Nach einem Bericht der BBC soll die (auch in Ost-Aleppo präsente) islamistische Liwa al-Tawhid tausende zivile Administratoren eingesetzt zu haben. Nach einem syrischen Oppositionsblock aus dem Jahr 2016 hing die Art und Weise der Einsetzung der Stadträte von den jeweiligen lokalen Gegebenheiten ab. Aleppo wird darin jedoch nicht erwähnt. Nach einer anderen Studie hat der IS in Ost-Aleppo einige Mitglieder des Stadtrates ermordet.
Hochgeladen hat das erwähnte Video (etwas mehr als 700 Aufrufe) ein 20-jähriger Niederländer, Tomas van Linge, der nicht nur seit 2013 erstaunliche 32.300 tweets absetzte, sondern auch über ein bemerkenswert breites Wissen und eine Fülle von Originalphotos aus den verschiedensten Problemzonen der Welt verfügt: darunter Myanmar, Türkei, Syrien, Marokko und Ukraine. Der Spiegel berichtete 2015 über diesen jungen Mann, der mittels youtube Arabisch gelernt habe. Schwierigkeiten mit den verschiedenen arabischen Dialekten, die sich vom schriftlichen Arabisch erheblich unterscheiden, scheint dieser umtriebige junge Mann nicht zu haben.
Produziert wurde das youtube-Video, wie auch andere von van Linge geposteten Ost-Aleppo-Fotos vom „Aleppo Media Center“ in Ost-Aleppo. Dieses Zentrum wurde durch einen Medieninkubator aus französischen und europäischen Mitteln in den vergangenen Jahren unterstützt, wie der französische Sender CFI auf seiner Webseite im Jahr 2015 berichtete. P. Cockburn wies am 16. Dezember 2016 im Independent darauf hin, dass auszuschließen sei, dass Journalisten in von al Nusra oder IS kontrollierten Gebieten ohne Gefahr für ihr Leben objektiv berichten könnten, sondern vermutet werden müsse, dass die Weltpresse spätestens seit der dokumentierten bestialischen Ermordung zweier amerikanischer Journalisten durch Sprachrohre von Terroristen gefüttert werde. Der Franzose Eric Dénécé, Leiter des Französischen Zentrums für Informationsforschung, warnte jüngst, dass eine damit einhergehende verzerrte mediale Darstellung der Lage (er äußerte sich zu Aleppo) Terrorismus sogar begünstigen könnte (durch die Überhöhung der Schuld Assads und die Darstellung von Dschihadisten als unschuldige Opfer).
Brita Hasan ist kein Einwohner der Stadt Aleppo. Er wohnt im Dorf Maryameen, Provinz Aleppo. Im April 2016 berichtete erstmals die Deutsche Welle über ihn. Damals hatte ein fragiler Waffenstillstand den Menschen in Aleppo etwas Hoffnung geschenkt. Dem Guardian vom 30. April 2016 zufolge reiste Brita Hasan in die Türkei zu einem Treffen mit dem Observer. Nach diesem Treffen wurde Brita Hasan am 28. April 2016 vom irakischen kurdischen Inlandsgeheimdienst in seinem Haus in Maryameen verhaftet. Dagegen protestierte der Stadtrat von Ost-Aleppo am 30. April mit einer Pressemitteilung in französischer Sprache auf Facebook. (Insgesamt existieren drei Facebook-Konten des Stadtrats.) Brita Hasan kam wieder frei.
Laut Reuters vom 13. Juli 2016 bereitete sich der Ostteil der Stadt auf eine lange Belagerung vor. Man könne monatelang durchhalten, wird Brita Hassan zitiert. Auch, dass „sie“ die Kapazitäten hätten, einen neuen Versorgungsweg für Ost-Aleppo zu eröffnen. Wie, wäre geheim. Tatsächlich versuchten 22 sogenannte oppositionelle Gruppen am 1. August 2016 den bereits erwähnten militärischen Befreiungsschlag für Ost-Aleppo. Es ging unter anderem um die Straße nach Ramouseh. Beteiligt an diesem Kampf, so al Monitor vom 4. August, waren die Freie Syrische Armee von Aleppo, aber auch Al Nusra und Ahrar al Sham (vom Generalbundesanwalt als ausländische terroristische Vereinigung eingestuft). Auch der Spiegel geht am 2. August 2016 auf diesen Kampf ein. Danach waren islamistische Gruppen, die „von außen zu Hilfe“ eilten, die „letzte Hoffnung für Ost-Aleppo,“ wo Hunderttausende ausgehungert würden. Laut Facebook des Stadtrates von Ost-Aleppo vom 24. August 2016 verweigert dieser die Annahme von humanitären Hilfeleistungen der UN- Nahrungsmittelhilfe, falls diese nicht über die Ramouseh-Straße erfolgten. Sonst müsse man die UN-Nahrungsmittelhilfe als Assad-Komplizenschaft betrachten.
Wer die Idee hatte, Brita Hasan im Rahmen der in London ansässigen gemeinnützigen Stiftung „Mayor of the World“, die alle zwei Jahre die herausragenden Leistungen von Bürgermeistern weltweit ehrt, zu würdigen, war nicht herauszufinden. Aber die Unterstützerschreiben für ihn sind aufschlussreich. Nicht nur, weil die Wortwahl einiger Unterstützer sich ähnelt. Pete K., USA, ist der erste Unterstützer. Aus Unterstützerschreiben erfährt man zum Beispiel, dass Brita Hasan ein gutbezahlter Ingenieur sei, der freiwillig nach Ost-Aleppo ging, um dort der Bevölkerung zu helfen. Einer sagt, er habe den Stadtrat mitgegründet. Ein anderer weist auf die Amtsübernahme 2015 hin. Julian B. aus Deutschland empfiehlt Hasan den Augen der Weltöffentlichkeit. Seine syrischen Freunde glaubten, Brita Hasan werde eine wichtige Rolle in der Zeit nach Assad spielen. Ein offenbar geflüchteter Syrer, Basal H., würdigt die besondere Leistung von Brita Hasan damit, dass der Stadtrat aktiv geblieben sei dank Brita Hasan und unabhängig von dem Stadtrat, den Al Nusra in Ost-Aleppo eingesetzt habe. Im Original lautet dies wie folgt: „Not only has he been managing to keep the Aleppo municipality institution alive and active, the Aleppo city council managed to stand against the competition and ideology of Jabhat Al-Nusra who run their own services body in Aleppo city called General Services Administration.“ Etwas überraschend ist, dass der junge Niederländer van Linge, der auf diesen Stadtrat mittels youtube aufmerksam machte, nicht zu den Unterstützern gehört.
Aus allen original syrischen Berichten sowie einer ausführlichen Studie von Agnés Favier kann nur geschlussfolgert werden, dass in Ost-Aleppo zwei Systeme öffentlicher Dienste bestanden und syrische Rebellen im August 2016 Seite an Seite mit islamistischen Terroristen kämpften, möglicherweise frei nach dem Motto: der Feind meines Feindes ist mein Freund. Glaubt man Basal H., dann könnte der letzte Stadtrat von Ost-Aleppo das seltene Kunststück fertig gebracht haben, Al Nusra und den IS in Ost-Aleppo auf Armlänge zu halten und dabei nicht getötet zu werden. Glaubt man Brita Hasan, dann war Al Nusra gar nicht in der Stadt. Glaubt man dem free halab Blog, al Monitor und dem Pentagon, dann haben in Ost-Aleppo syrische Rebellen mit Terroristen paktiert.
Brita Hassan unterhielt seit 2014 zwei Facebook-Konten. Eines erlosch im Juni 2016. Eines ist aktiv. Inzwischen hat er 3254 Freunde. Zu den (wenigen) Favoriten von Brita Hassan zählt Riyad Hidschab, ein prominenter syrischer Oppositioneller, jüngst von Präsident Hollande empfangen. Auch die ahali halab initiative (Citizens of Aleppo Initiative) zählt zu Brita Hasans Favoriten. Chris Doyle erläuterte am 15.9. 2016, dass diese Initiative in Ost- und West-Aleppo gleichermaßen respektiert sei und daher in beiden Stadtteilen Aleppos agieren könne, damit das Leben in Aleppo nicht vollends zum Erliegen komme. Im September 2016 ging es dieser Initiative darum, dass Trinkwasser von Ost- nach West-Aleppo fließen konnte und Elektrizität vom Westen Aleppos in die vom IS kontrollierten Territorien gelangte. Der Deutschlandfunk wies im September 2016 darauf hin, dass die „Rebellen“ in Ost-Aleppo die Wasserversorgung für ganz Aleppo kontrollierten und titelte „Durst als Waffe.“ Neuerdings gehört auch der Präsident des Rates. Donald Tusk, zu Brita Hasans Favoriten.
Ein Twitter-Konto von Brita Hasan existiert ebenfalls (seit September 2014). Seine Tweets nehmen allerdings erst im Laufe des Jahres 2016 Fahrt auf. Mit CNN gewinnt er im September 2016 einen prominenten Follower. Inzwischen zählt auch der britische Außenminister Johnson dazu. Und die Kölner Oberbürgermeisterin. Auf Twitter wetterte Brita Hasan im Herbst gegen Assad, Putin und Obama, gegen die Vereinten Nationen und prangerte den „Genozid“ beziehungsweise den „Holocaust“ an den „Bürgern Aleppos“ an (gemeint war Ost-Aleppo). Es sei eine verleumderische Behauptung Assads, dass er ein Al Nusra Mann sei, ließ er ebenfalls auf Twitter wissen. Auch, dass er im Oktober 2016 daran gehindert gewesen sei, nach (Ost)Aleppo zurückzukehren. Er wäre verwundet worden. Brita Hasan twitterte ebenfalls, sich nicht nochmals als Bürgermeister zur Wahl zu stellen. Nach den Regeln wäre dies ausgeschlossen. In Frankreich gab er in der zweiten Hälfte November Interviews und traf sich mit einflussreichen Politikern. So wurde er medial und politisch voll präsent.
Am 7. Dezember 2016 hat der Stadtrat von Ost-Aleppo angeblich eine humanitäre Initiative zur Rettung der Zivilbevölkerung veröffentlicht. Brita Hasan war zu dem Zeitpunkt nicht mehr in der Stadt. „Wir, die bewaffneten Revolutionsgruppen“ heißt es darin. Die Erklärung machte Mete Sohtaoglu, ein türkischer Journalist, auf Twitter öffentlich. Sie ist auf der Facebook-Seite des Stadtrates nicht zu finden. Deshalb ist unklar, ob diese Erklärung echt ist. Die Facebook-Seite des Stadtrates von Ost-Aleppo ist seit dem 14. Dezember nicht mehr aktiv.
Brita Hasan dagegen ist nicht verstummt. Auf Facebook versicherte er am 19. Dezember 2016 Deutschland aufgrund des Terroraktes von Berlin seiner Solidarität. Der IS und Assad seien zwei Seiten einer Medaille, heißt es unter anderem in dem auf Englisch veröffentlichten Text. Darin steht auch, dass die syrischen Revolutionäre von Aleppo gegen den IS gekämpft hätten. Und dass er die Bundeskanzlerin um ein Treffen in Berlin gebeten habe. Am 15. Dezember 2016 um 18.22 Uhr jedoch, am Tag, nachdem Assads Truppen die Kontrolle über Aleppo wiedererlangten und die Evakuierung begann, postete Brita Hasan den folgenden Text (im Original auf Arabisch, hier in Dolmetscherübersetzung) auf Facebook:
„Meine Lieben sind zu den Kumpanen derer gegangen, die sie getötet und belagert haben.
Ihr seid alle Mörder, alle Schweine.
Oh Herr, erlege uns nicht auf, wozu wir keine Kraft haben.“
Im Ergebnis dieser Spurensuche bleibt die ratlose Frage: Wer ist Brita Hasan? Wes Geistes Kind ist der Mann wirklich, mit dem die EU-Staats- und Regierungschefs über das Leiden der syrischen Zivilbevölkerung im Krieg gesprochen haben?
Schlagwörter: Al Nusra, Aleppo, Brita Hasan, EU, Freie Syrische Armee, IS, Medien, Petra Erler, Stadtrat, Wasserversorgung