20. Jahrgang | Nummer 5 | 27. Februar 2017

Köpenick bekämpft die Unschicklichkeit

von Wolfgang Brauer

1563 beschloss das Konzil von Trient, dass fürderhin in kirchlichen Räumen nur „schickliche Bilder“ gezeigt werden dürften. Das ging nicht gegen die Blut- und Marterorgien der christlichen Kunst, deren Folterphantasien den Zeitgenossen tatsächlich nur ein Abbild tagtäglich zu erlebender Realität waren. „Unschicklich“ war die Abbildung nackter menschlicher Körperlichkeit unterhalb des Bauchnabels. Ein Schüler und Protegé Michelangelo Buonarottis wurde daraufhin das berühmteste Opfer der gegenreformatorischen Prüderie. Im Auftrage Papst Pius IV. legte Daniele da Volterra (1509–1566) um 1565 den nackten Figuren des „Jüngsten Gerichtes“ seines Lehrers Windeln um die prachtvollen Blößen. Sein Ruf ist bis zum heutigen Tage ruiniert, er gilt gemeinhin nur als „il braghettore“ („der Unterhösler“).
Nun ist das Rathaus von Berlin-Köpenick wahrlich nicht mit der Sixtina vergleichbar, und die dortigen Regenten haben auch nicht das politische Format dieses Papstes. Als Ort vollendeter Possenspiele genießt es gleichwohl Weltruhm. Wer nun aber glaubt, Köpenickiaden seien lediglich mit dem Jahre 1906 und dem falschen Hauptmann Wilhelm Voigt verbunden, irrt gewaltig. Der Virus des Duckmäusertums und vorauseilenden Gehorsams muss irgendwie in den Gewölbefugen dieses auf Mittelalter machenden Bauwerkes festsitzen. Hier werden seit einigen Jahren vom Kulturamt und den diversen Kulturstadträten erbittert die ästhetischen Positionen des Konzils von Trient verteidigt. Objekt des Dauerstreites sind Fotografien. Seit 22 Jahren findet in besagtem Rathaus das „Foto Klub Forum Berlin“ statt, eine über die Grenzen der Stadt Anerkennung findende Exposition. Am 17. Februar 2016 bejubelte das Bezirksamt noch die jährliche Schau: „Das FOTO KLUB FORUM BERLIN 2016 ist auch im 22. Jahr seines Bestehens juryfrei, ein Ausstellungsprojekt, das in Berlin und Brandenburg einzigartig ist. 20 Fotoklubs aus den Ländern Berlin und Brandenburg zeigen vom 1. März bis 29. April im Rathaus Köpenick wieder aktuelle und interessante Einblicke in ihr Schaffen.“ Ende März war allerdings Schluss mit der fotografischen Unbefangenheit. Die Kulturamtsleiterin Annette Indetzki teilte den Ausstellungsmachern mit, dass man zwar eine „grundsätzliche Offenheit gegenüber Ausstellungsprojekten mit Aktfotografie“ habe, es aber Beschwerden gegen Aktfotos im Rahmen einer Ausstellung im Rathaus gegeben habe: „Es kommen viele Menschen mit Migrationshintergrund in das Rathaus […] deren religiöse Gefühle durch Aktfotos nicht verletzt werden sollten.“ Allerdings hatte sich seinerzeit nicht ein Mensch mit Migrationshintergrund über die Ausstellung beschwert. Jedenfalls wurden zwei Bilder der Fotografen Wolfgang Hiob und Jan Gießmann abgehängt.
Hiob ist Mitglied im Colorklub Berlin-Treptow. Von 15 weiteren Mitgliedern hingen ebenfalls Bilder in der Ausstellung. Aus Solidarität mit ihrem Kollegen hängten die ihre 30 Bilder ebenfalls ab. Wolfgang Hiob widerfuhr solches nicht zum ersten Male. Bereits 2010 wurden seine Akt-Bilder aus der Rathausausstellung entfernt. Kurz darauf wurde die gesamte Ausstellung in das Bürgerhaus Altglienicke „verbannt“, wie seinerzeit der Tagesspiegel den Fotografen zitierte. Damals gab das noch einen handfesten kommunalpolitischen Skandal. Im Herbst 2011 erklärte die Bezirksbürgermeisterin Gabriele Schöttler (SPD) für das Bezirksamt, dass man künftig auf „jedwede politische Zensur der dargestellten Bilder, Fotos und Gemälde verzichtet“. Fünf Jahre später war das vergessen. Der Bürgermeister hieß 2016 Oliver Igel (SPD) – und hüllte sich in Schweigen. Igel ist immer noch Bezirksbürgermeister und schweigt nach wie vor. Auch die sittenstrenge Kulturamtsleiterin Indetzki ist noch im Amte – und handelt wie zuvor. Nur die Stadtbezirksrätin für Kultur ist neu: Cornelia Flader (CDU). Die beiden letzteren erklärten am 24. Januar 2017 der verblüfften Gesellschaft für Fotografie, die ist Trägerin des 23. „Foto Klub Forum Berlin“, dass im Rathaus Köpenick keine Aktfotos ausgestellt werden dürften. Ein besonderes Schmäckerchen hatten die Damen noch in petto: Sie wollten zusätzlich den Mitgliedern des Bezirksamtes das Recht zugestehen, nach der Hängung der Bilder die Ausstellung zu „begutachten“ und von ihnen unerwünschte Fotos entfernen zu lassen. Das ist nun nicht nur eine verklemmt-kunstfeindliche Haltung, das ist die Ankündigung unverhüllter politischer Zensur: Auch in Treptow-Köpenick ist die AfD mit Sitz und Stimme im Bezirksamt vertreten.
Die Gesellschaft für Fotografie zog nun die Reißleine. Am 12. Februar kündigte sie ihre Ausstellungstätigkeit im Rathaus Köpenick auf, da sie „keine Basis für die weitere Zusammenarbeit“ sehe. Bezirksstadträtin Flader karrte fünf Tage später nach. Man hätte „gern auf die Ausstellung von Aktfotos, Gewaltdarstellungen und Schockwerbung in einem öffentlichen Gebäude wie dem Rathaus Köpenick verzichtet“, konnte leider keine „Alternativvorschläge des Bezirksamtes“ kommunizieren und bedauere den Schritt der Gesellschaft für Fotografie sehr. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Schockwerbung, Gewaltdarstellungen und Aktfotos sind für die Kulturgewaltigen eines Berliner Bezirkes, der keine Mühen scheut, mit seinen kulturellen Traditionen zu protzen, scheinbar ein und dasselbe verwerfliche Zeug. Zumindest das mit den Akt-Darstellungen hätte Pius IV. genauso gesehen. Gegen Gewaltdarstellungen und Schockwerbung für sein Unternehmen hatte er nichts.
Einen ähnlichen Fall gab es im November 2013 an der Volkshochschule Marzahn-Hellersdorf. Dort ließ der stellvertretende Direktor sechs Aktzeichnungen der Künstlerin Susanne Schüffels „mit Rücksicht auf Muslime“ – es ging um Frauen, die dort Deutschkurse belegten, keine einzige hatte sich beschwert… – abhängen. Es gab einen berlinweiten Skandal. Nach fünf Tagen hingen die Bilder wieder. Als „Kompromiss-Angebot“ gab es übrigens auch in Marzahn den Vorschlag, diese Bilder in einem anderen Raum zu zeigen. Im November 2016 berichtete die Magdeburger Volksstimme über den Rauswurf der Arbeiten Paul Ghandis und Martin Müllers aus dem „Haus der Heilberufe“ in Magdeburg. In der dortigen Flurgalerie wollten sie mit Bleistift und Farben überzeichnete Aktfotografien zeigen. Die für das Haus zuständige Kassenärztliche Vereinigung äußerte recht lapidar: „Unsere Flurgalerie muss eine Grundausrichtung haben, nach welcher Aktdarstellungen leider nicht möglich sind.“ Als Ersatz zeigte man übrigens Landschaftsaquarelle. Derzeit kämpft die Malerin Julia Wegat aus Frankleben im Saalekreis um ihre künstlerische Existenz. Die hallesche Gerichtsbarkeit verbot in der Nachfolge einer 2015 gezeigten Ausstellung in der „Villa Rabe“, betrieben von der Christlichen Akademie für Gesundheits- und Pflegeberufe Halle/Saale, ihr Gemälde „Rapunzel 4“. Dargestellt ist ein nacktes halbwüchsiges Mädchen mit kurzen Haaren und gebrochenem Arm. Die Eltern hatten seinerzeit keine Einwände gegen das Modell-Stehen ihrer Tochter. Nachdem jedoch eine überkluge Rezensentin das Bild in einen Sinnzusammenhang mit dem Thema Kindesmissbrauch setzte, zog die Familie vor Gericht.
Den Berlin-Brandenburger Fotokünstlern zu empfehlen, sich künftig auf Blumen und Kinder zu fokussieren, ist also auch nicht zielführend. Kinder gehen gar nicht… Und Blumen? Deren Symbolwert kann für Künstler verteufelt gefährlich werden. Auch wenn das Wissen darum dank erfolgreicher Bildungsreformen längst verschüttet ist – es gibt ja Wikipedia… Einen ganz schwachen Trost gibt es jedoch: All die Verbotenen befinden sich in allerbester Gesellschaft. Von Michelangelo war schon die Rede – der wurde übrigens ausgerechnet von Pietro Aretino, einem notorischen Pornographen, angeschwärzt –, von Egon Schiele schweigen wir lieber ganz. Aber Lucas Cranach der Ältere, wir stecken ja tief im Reformationsjubiläum? Den hatte die Betreiberfirma der Londoner U-Bahn verboten. 2008 wollte die Royal Academy of Arts ihre grandiose Cranach-Ausstellung mit einem Plakat bewerben, auf dem dessen „Venus“ aus dem Jahre 1532 gezeigt wurde. Auf diesem mit äußerster Zartheit gemalten Bild hält die Göttin einen durchsichtigen Schleier vor ihre Scham. Ich bin mir sicher, aus dem Köpenicker Rathaus würde auch Lucas Cranach in hohem Bogen rausfliegen.