20. Jahrgang | Nummer 5 | 27. Februar 2017

Freiheit, Freiheit über alles?

von Henryk Goldberg

Der alte Mann öffnet den Schuppen und bläst den Staub von dem Auto, das da steht. Dann steigt er ein, startet den Motor und fährt los. Darf er das? Ja, er darf das, denn das Land heißt Katschekistan oder so und der Mann heißt Henry Hübchen, und der kann wirklich fast alles, was zu seinem Beruf gehört, er ist Schauspieler. Außerdem ist er hier ein „Kundschafter des Friedens“, und das Drehbuch wird es schon richten.
Aber mein Fräulein Mutter dürfte das auch. Die wird in diesem Jahr 94 und als sie ihren noch gültigen Führerschein erwarb, das war so um die Zeit meiner Geburt. Als sie das letzte Mal ein Automobil chauffierte, da war ich so um die 6,7 Jahre alt. Ich werde in diesem Jahr 68.
Und ob sie das darf, das ist in diesem Land Gegenstand erregter Debatten. Eine Leserin schrieb unlängst, sie halte die anhaltende Diskussion der Frage, ob Menschen ab einem bestimmten Alter ihre Fahrtüchtigkeit zu beweisen hätten, für eine Diskriminierung der älteren Mitbürger. Die deutsche Versicherungswirtschaft hat dieser Tage wiederum einen solchen Test ins Gespräch gebracht, der Deutsche Verkehrsgerichtstag konnte sich am Freitag wiederum nicht zu einer solchen Empfehlung entschließen, es fehle an der Datenbasis.
Immer mal wieder lese ich Ratschläge für die Fitness im Alter. Kreuzworträtsel, Sport, alles so was. Und jeder dieser Ratschläge, sie sind richtig und sinnvoll und gut gemeint, weist mich auf etwas hin, worauf ich nicht so gern hingewiesen werde. Unlängst, im Urlaub, stand da, es ging um den Mietwagen, etwas über besondere Bedingungen, wenn der Fahrer unter 21 ist oder über 65.
Mein Gott, die haben tatsächlich mich gemeint. Es hat mir nicht gefallen, aber ich habe es verstanden. Und wenn ich irgendwo für einen Eintritt Geld bezahlen soll und da steht etwas über Ermäßigung für Senioren, dann gefällt mir das auch nicht. Ich fühle mich durch diese Ermäßigung diskriminiert oder sagen wir: Hingewiesen auf etwas, das mir nicht wirklich gefällt, mein Alter. Zum Glück ist dieser Seniorenrabatt nicht so furchtbar häufig.
Das ist es. Es ist der Ärger darüber, auf etwas angesprochen zu werden, worauf man nicht angesprochen werden will. Und es ist wohl leichter, den Rückgang der physischen Leistungsfähigkeit zu respektieren, als den der geistigen Fähigkeiten, der Konzentration. Aber wo ist die Grenze?
Der Chef des Thüringer Fahrlehrerverbandes wies, polemisch gegen einen solchen Senioren-Test, darauf hin, dass mancher 70-Jährige fitter sei als ein 40-Jähriger. Ich bestehe unbedingt darauf, dass der Mann recht hat, das walte, wie der Dichter sagt, Hugo oder wer auch immer. Indessen: Was beweist das? Ich hatte einen Kollegen, früher, der rauchte nie, der wusch sich die Hände zu jeder vollen Stunde. Eines Tages hatte er eine belegte Stimme und ein Jahr später blies Ludwig Güttler an seinem Grab, da war er um die 40. Und Jürgen Kuczynski pflegte zu sagen, das letzte Mal rauche er in Baumschulenweg, dem Krematorium in Ostberlin. So kam es auch, da war er 93.
Hier treffen zwei schwierige Themen aufeinander. Das Unbehagen, gleichsam offiziell als älterer, als alternder Mensch wahrgenommen zu werden – und der unglücksselige Satz „Freie Fahrt für freie Bürger“. Der führt dazu, dass auf deutschen Autobahnen ein vernünftiges Tempolimit nicht durchsetzbar scheint, während wir umgeben sind von lauter unfreien Ländern mit unfreien Bürgern, wie, nur mal als Beispiel, die Schweizer und die Franzosen. Und weil es nun einmal so ist, traut sich niemand, das zu ändern, schließlich, die Autofahrer sind die größte Wählergruppe.
Natürlich, sie bauen auf die Freiwilligkeit, die Einsicht, für den Seniorentest, für das Tempolimit. Wenn ich darf, fahre ich gern mal 200, das macht Spaß. Und wenn ich nicht muss, werde ich niemals zu einem Fahrtest gehen, das macht keinen Spaß. Und wer an die Vernunft glaubt, an die Freiwilligkeit vernünftigen Verhaltens, der ist noch nie auf einer deutschen Autobahn gefahren.
Gewiss, das ist eine Minderheit, die nicht vom Wirken physikalischer Gesetze überzeugt ist, aber es ist die Minderheit, die die meisten Toten erzeugt. Und nicht selten sind die Toten die, die gefahren sind, wie man fahren soll. Und all die 30-, 40-, 50-Jährigen, die ihren Frust aggressiv am Steuer kompensieren, werden einmal 70, 80 Jahre alt. Und einsichtiger?
Gewiss doch, der Hausarzt wird vielleicht etwas merken, aber weil er ein Arzt ist und kein Polizist, muss und wird er fein stille sein, sie waren es ja sogar bei dem Piloten, der keine Lust mehr hatte am Leben. Dann werden sie dem Mann oder der Frau vielleicht empfehlen, doch einmal über die Abgabe der Fahrerlaubnis nachzudenken.
Und dann?