20. Jahrgang | Nummer 2 | 16. Januar 2017

Vom Saulus zum Paulus

von Johnny Norden

Am 26. Oktober 1953 betrat Friedrich Paulus nach zehnjähriger Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion wieder deutschen Boden. Als er den aus Moskau kommenden Zug verließ, wurde er auf dem Bahnsteig von seinem ehemaligen Adjutanten Wilhelm Adam mit den Worten empfangen: „Herr Generalfeldmarschall, ich begrüße Sie in der Deutschen Demokratischen Republik!“
Paulus – der ranghöchste Wehrmachtsoffizier, der sich für die DDR als Heimat entschieden hatte – gehört zu den widersprüchlichsten deutschen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Vom blinden Vollstrecker der Kriegspläne Hitlers wandelte er sich zu einem Freund der Sowjetunion und Kämpfer für den Frieden in Europa.
Der 1890 in einer hessischen Beamtenfamilie geborene Friedrich Paulus schlug nach dem Besuch des Gymnasiums die Laufbahn eines Berufsoffiziers ein. Im Ersten Weltkrieg kämpfte Paulus für die kaiserliche Armee an der Westfront. Der Zweite Weltkrieg ermöglichte ihm einen steilen Aufstieg. Paulus zeichnete sich als hoch qualifizierter Stabsoffizier aus: fleißig, penibel, diszipliniert, mit hohem Respekt vor dem Befehlsweg. Paulus war nicht der Offizierstyp des Haudegens, der sich durch mutige Entscheidungen auf dem Schlachtfeld auszeichnete. Er war eher der gewissenhafte Planer, dessen gute Manieren ihn bei Vorgesetzten beliebt machten. Hitler wurde schnell auf ihn aufmerksam. 1940 nahm Paulus in seiner Eigenschaft als stellvertretender Stabschef des Heeres an der Vorbereitung des Unternehmens „Barbarossa“ teil: der Planung des Angriffs auf die Sowjetunion. Im Januar 1942 übertrug Hitler ihm das Kommando über die 6. Armee: mit ihren 300.000 Mann eine Eliteeinheit der Wehrmacht. Paulus erhielt den Auftrag, im Sommer zur Wolga durchzustoßen und Stalingrad zu erobern. Nach monatelangen heftigen Kämpfen wurde die 6. Armee im November von der Roten Armee eingeschlossen. Hitler übermittelte den Befehl: Einigeln und auf Entsatz warten. Die riesige Armee war faktisch vom Nachschub an Munition, Nahrung, Treibstoff und Medikamenten abgeschnitten. Die Übermacht der sowjetischen Truppen und ihre geschickte Führung machten jeden Entsatzversuch unmöglich. Zudem waren die Soldaten auf den hereinbrechenden Winter mit Temperaturen bis minus 30° C nicht vorbereitet.
Paulus war nun mit der schwierigsten Frage eines jeden Militärs konfrontiert: Sollte er gegenüber dem Befehl eines Vorgesetzten ungehorsam sein, um der eigenen Einschätzung entsprechend zu handeln? Als klugem Offizier muss ihm schnell klar geworden sein, dass der Hitlerbefehl unzweckmäßig war. Aber Friedrich Paulus gehorchte. Gleichzeitig erklärte er einem seiner Generäle, der ihn zum Ausbruch aus dem Kessel ermuntern wollte: „Ich weiß, die Kriegsgeschichte hat schon jetzt ein Urteil über mich gesprochen.“ Ein Kapitulationsangebot der Roten Armee im Januar 1943 lehnte er ab, obwohl seine Armee zu diesem Zeitpunkt schon in Auflösung begriffen war: Seine Soldaten starben zu Tausenden an Erfrierungen, Seuchen, Hunger. Noch einen Tag vor seiner Gefangennahme funkte Paulus eine Ergebenheitsbotschaft an Hitler: „Unser Kampf möge ein Beispiel dafür sein, auch in hoffnungsloser Lage nie zu kapitulieren, dann wird Deutschland siegen! Heil mein Führer!“ Daraufhin beförderte Hitler Paulus zum Generalfeldmarschall.
In der Kriegsgefangenschaft vollzog sich eine erstaunliche Veränderung im Verhalten des Friedrich Paulus: Während er 1943 seine Mitgefangenen noch mit „Heil Hitler“ grüßte, unterschrieb er ein Jahr später eine Erklärung des „Bundes deutscher Offiziere“ an das deutsche Volk, sich von Hitler loszusagen. Die Lage hatte sich grundlegend verändert: 1944 trieb die Rote Armee die Wehrmacht vor sich her und erreichte die deutschen Grenzen, die Westmächte hatten die „Zweite Front“ eröffnet und in Deutschland rebellierten die Offiziere. Paulus musste zu diesem Zeitpunkt erkannt haben: Hitler konnte nicht mehr gewinnen, wirklicher Sieger dieses Krieges würde die Sowjetunion sein. Von ihr hingen sein persönliches Schicksal und die Zukunft Deutschlands ab. Ihm schien es an der Zeit, sich mit den neuen Herren zu arrangieren. Und das tat Paulus mit der ihm eigenen Konsequenz. Hatte er sich zum Antifaschisten gemausert? Aus dem Jahre 1945, nach dem Ende des Krieges, ist eine bemerkenswerte Äußerung des Friedrich Paulus übermittelt: „Ich diente dem deutschen Volk durch strikte Befehlserfüllung.“ Dieser Satz ermöglicht nicht nur einen tiefen Einblick in seine Beamtenseele. Ihm fehlte – zumindest zu diesem Zeitpunkt – jegliches Verständnis für das Verbrecherische des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion. Ihm fehlte auch jedes Schuldgefühl gegenüber seinen Soldaten, die im Stalingrader Kessel einen elenden, sinnlosen Tod gestorben waren.
Auf die Metamorphose des sensiblen und eitlen Paulus hatte die kluge, großherzige Behandlung durch die sowjetische Seite entscheidenden Einfluss. Nicht nur, dass sie auf eine Anklage gegen ihn als Kriegsverbrecher verzichtete. Paulus verbrachte seine Kriegsgefangenschaft ab 1945 in einem goldenen Käfig: Eine Datsche als Wohnort mit Rund-um-Betreuung, Kuraufenthalte auf der Krim und monatliche Theaterbesuche in Moskau.
Im Februar 1946 trat Paulus als Zeuge der Anklage im Nürnberger Prozess auf. Er wies in allen Details die zentrale Rolle Keitels, Jodls und Görings bei der Vorbereitung und Durchführung des Vernichtungs- und Eroberungskrieges gegen die Sowjetunion nach. Damit war ihm ein Zurück in die Reihen der deutschen Militaristen versperrt.
1953 gab die sowjetische Seite ihre Zustimmung zur Übersiedlung Paulus‘ in die DDR. 1954 trat er auf einer großen internationalen Pressekonferenz gegen den NATO-Beitritt der BRD auf und warb für gutnachbarliche Beziehungen mit der Sowjetunion. In diesem Sinne trat Paulus bei mehreren Treffen mit ehemaligen Wehrmachtsoffizieren auf und stellte sich eindeutig auf die Seite der DDR.
Dabei hatte Paulus keinen leichten Stand. BRD-Medien organisierten eine Hasskampagne gegen ihn. Paulus als Wendehals, Opportunist und Sprachrohr der Sowjets. Auch in der DDR-Bevölkerung gab es heftige Vorbehalte gegen Paulus. Insbesondere in Sachsen, wo sich eine Mehrheit der Soldaten jener 6. Armee rekrutiert hatte, wurde Paulus als unmittelbarer Verantwortlicher für das Sterben im Stalingrader Kessel verflucht.
Zu seiner konkreten persönlichen Schuld gegenüber den sowjetischen Menschen und gegenüber dem deutschen Volk hat sich Paulus nie öffentlich geäußert. Von der DDR wurde er dazu auch nicht gedrängt. Paulus starb am 1. Februar 1957 in Dresden, ohne persönliche Aufzeichnungen hinterlassen zu haben.