von Heerke Hummel
Die Verhältnisse in Deutschland und der Welt schreien nach gründlicher Veränderung. Wieder einmal! Auch nun, im fünfhundertsten Jahr nach Martin Luthers Thesenanschlag, haben deutsche Christen das Wort ergriffen – mit einem Buch des Titels „Die Wirtschaft zur Vernunft bringen“. Herausgegeben wurde es von der Akademie Solidarische Ökonomie (ASÖ), über deren Wirken im Blättchen bereits 2008, kurz nach ihrer Gründung, berichtet wurde (Heft 25/2008). Es ist ein außergewöhnliches Buch, dessen Inhalt weit über seinen etwas spröden Titel hinausgeht, indem Autor Bernd Winkelmann einen großen Bogen spannt von den ökonomischen und zivilisatorischen Paradoxien der Gegenwart über religiöse Glaubens- und weltanschauliche Fragen hin zu sehr konkreten Vorstellungen von einer Erneuerung sowohl der Religiosität und des Glaubens als auch ökonomischer Strukturen und politischer Instrumentarien.
Warum dieser so weit gespannte Bogen? Als Theologe will Winkelmann über Ansätze und Bausteine einer postkapitalistischen Ökonomie hinaus die sozialethischen und spirituellen Grundlagen einer solchen Ökonomie und ihre geistesgeschichtlichen Hintergründe herausarbeiten. Eine Schlüsselrolle für eine sozialethisch gegründete Ökonomie spielen seiner Meinung nach das Menschenbild und die Frage, „woher die Kraft zum Guten kommt“. Er „wage die These, dass wir aus einem Wiedergewinnen einer ganzheitlichen Wirklichkeitserfahrung, aus einem Neuentdecken von Transzendenz und Spiritualität die Umkehrkräfte für eine ‚große Transformation‘ unseres Wirtschaftens und unserer Gesellschaft finden könnten.“ Die zentrale Botschaft seiner Studie ist eine dreifache:
– Es gibt ein großes, nahezu ausgereiftes sozialethisches Potenzial für die Wende von einer zerstörerischen zu einer lebensdienlichen Wirtschaftsweise und damit zu einer zukunftsfähigen und friedensfähigen menschlichen Zivilisation.
– Doch dieses Potenzial wird sich nur entfalten können, wenn die innere Logik, die Prinzipien und Strukturen der kapitalistischen Wirtschaftsweise durchschaut und durch solidarische, kooperative und gemeinwohlorientierte Prämissen und Strukturen ersetzt werden.
– Für die Entfaltung des sozialethischen Potenzials kann die Neuentdeckung einer transreligiösen Spiritualität wesentliche Inspirationen und Kräfte freisetzen. Sich dem zu öffnen, wäre heute die vielleicht größte Herausforderung für Wissenschaft und Gesellschaft, für Kirchen und Religionen.
Dem dialektisch denkenden Autor mit seinem „ganzheitlichen Menschenbild und Lebensverständnis“ geht es um einen Brückenschlag zwischen Naturwissenschaft und aufgeklärter Religiosität, zwischen der Evolutionstheorie und der Gottesfrage. Ausgangspunkt ist für ihn „eine Theologie, die von der historisch-kritischen und entmythologisierenden Interpretation biblischer Texte ausgeht, das theistische Gottesbild hinter sich lässt und die These wagt, dass die Evolution des Seins als die Entfaltung eines ‚Göttlichen‘ verstanden werden kann.“ Wer denkt hier nicht an Georg Wilhelm Friedrich Hegel und dessen kritischen Schüler Karl Marx, der Hegels Philosophie vom Kopf auf die Füße stellte? Dennoch: Bemerkens- und anerkennenswert ist Winkelmanns leidenschaftliche, kritische Auseinandersetzung als Christ mit Dogmen und Praktiken des Christentums, um (ganz im Sinne von Marx!) die Welt, wie sie heute ist, nicht nur als gottgewollt hinzunehmen und zu interpretieren, sondern sie initiativ verändern zu können. Wie er dabei vorgeht, kann sicherlich auch für manchen Marxisten ein Lese- und Denkvergnügen sein, weil man immer wieder Impulse erhält, eigene bisherige Meinungen erneut zu überprüfen und sogar die Grundfrage der Philosophie – nach dem Verhältnis von Sein und Bewusstsein – nochmals zu durchdenken. Denn auch darauf geht der Autor ein.
Nicht weniger interessant sind die ökonomischen und politischen Konsequenzen, die Winkelmann im dritten Abschnitt seines Buchs unter der Überschrift „Möglichkeiten der ökonomischen und gesellschaftlichen Transformation“ aus seinen vorausgegangenen Betrachtungen zieht. Dabei stützt er sich auf die mehrjährigen Debatten im Kreise der ASÖ zu dieser Thematik und entwirft quasi ein politisch-ökonomisches, durchaus nicht utopisches Programm zur Herausbildung einer „postkapitalistischen Ökonomie“. Sie soll gekennzeichnet sein durch eine „solidarische Arbeits- und Einkommenskultur“, ein „solidarisches Sozial- und Steuersystem“, „ökosoziale Globalisierung und Regionalisierung“ sowie „Ökologisierung der Wirtschaft und der Lebensweise“. Grundlagen dafür wären eine „gemeinwohlorientierte Eigentumsordnung“, eine „entkapitalisierte Finanzordnung“ sowie eine „partizipatorische Unternehmensverfassung“. Was unter all dem zu verstehen ist, kann hier nicht weiter ausgeführt werden, wird aber vom Autor gut verständlich erläutert. Was daran so manchem „Realpolitiker“ illusorisch vorkommen mag, ist das Ergebnis konsequenten Denkens des Verfassers und seiner Mitstreiter bei der ASÖ, die sich nicht scheuen, auch angeblich so Unmögliches zu fordern wie eine Neuordnung des Bankwesens in öffentlicher Hand, die Abschaffung des Zinssystems und des leistungslosen Geldanlagesystems (vor allem jeden spekulierenden Geldhandels), die Auflösung der internationalen „Finanzindustrie“ und andere finanzpolitische Maßnahmen oder die Aufgabe solcher neoliberalen Dogmen wie dem vom „Freihandel“.
Und wie soll es zu solcher Reformation der Gesellschaft kommen? Indem „die hier skizzierten Zielvorstellungen in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs erörtert und konkretisiert werden“, schreibt Winkelmann. Nach entsprechender demokratischer Willensbildung sollte, so der Autor, „das Ganze in einen neuen Gesellschaftsvertrag einfließen. Dieser könnte dann gemäß Artikel 146 des Grundgesetzes in einer neuen Verfassung rechtsverbindliche Grundlage unserer Gesellschaft werden.“
Solche klaren, überzeugenden Vorschläge und langfristigen Orientierungen für eine Politik des notwendigen gesellschaftlichen Wandels wären in diesem gerade begonnenen „Superwahljahr“ in Deutschland auch von der parlamentarischen Opposition dringend zu erwarten. Doch verglichen mit ihnen wirken beispielsweise die unlängst veröffentlichten „Thesen zu r2g und einer neuen linken Mehrheit“ des Instituts Solidarische Moderne e.V. (ISM) außerordentlich blass und nebulös. Schließlich versteht sich diese Einrichtung als eine Programmwerkstatt mit dem Ziel, „über Parteigrenzen hinweg konkrete und durchführbare politische Alternativen zum Neoliberalismus zu entwickeln“. Und so mag es Marxisten wie eine Ironie der Geschichte anmuten, dass nun klare gesellschaftliche Alternativen gerade von Aktivisten der Kirche angeboten werden – sogar unter der Überschrift „Wendezeiten begreifen – Erkenntnisse der Systemtheorie und der Revolutionswissenschaften“. Für die Parteigänger von Karl Marx im Deutschen Bundestag jedenfalls scheint es derzeit politisch nicht opportun zu sein, das heutige Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland infrage zu stellen.
Bleibt also nur zu wünschen, dass ISM und ASÖ aufeinander zugehen, um die Kräfte für ein im Wesentlichen gleiches Anliegen zu bündeln und der Stimme aus der Kirche das notwendige politische Gewicht zu geben! Sollte Letzteres nicht gelingen: Bernd Winkelmann skizziert am Schluss seines Buches denkbare, in ihrer Dramatik unterschiedliche Szenarien eines Wendeprozesses – ein sanftes Übergangsszenarium, eine massive Krisenentwicklung, eine eruptive Crash-Entwicklung oder ein Untergangsszenarium als Ende der Menschheit.
Bernd Winkelmann, Die Wirtschaft zur Vernunft bringen. Sozialethische Grundlagen einer postkapitalistischen Ökonomie, Tectum Verlag, Marburg 2016, 238 Seiten, 19,95 Euro.
Schlagwörter: Alternativen, Bernd Winkelmann, Heerke Hummel, Ökonomie, Religion