20. Jahrgang | Nummer 3 | 30. Januar 2017

Die NPD darf weitersterben

von Christian Bommarius

Am Ende des erfolglosen NPD-Verbotsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht stehen zwei Sieger. Der eine – allerdings nur scheinbare – Sieger ist die NPD, deren Funktionäre sich nun einbilden werden, das Gericht habe das Fortleben ihrer rechtsextremen Partei gesichert. Tatsächlich aber haben die Karlsruher Richter ihr nur eine Lizenz zum Weitersterben erteilt.
Die NPD ist längst eine Splitterpartei, finanziell ausgeblutet und in keinem Landtag mehr vertreten, ihr Verschwinden von der politischen Landkarte der Republik ist vermutlich nur eine Frage der Zeit. Es klingt paradox: Aber es ist ausschließlich die trostlose Lebenserwartung, die der Partei in Karlsruhe das Überleben gesichert hat. Das Gericht hat keine Zweifel an ihrer verfassungsfeindlichen Gesinnung, die menschenverachtend, rassistisch und wesensverwandt mit der Ideologie des Nationalsozialismus sei. Aber die Partei habe eben zu wenig Bedeutung, um die freiheitliche demokratische Grundordnung ernsthaft in Gefahr bringen zu können.
Der letzte Aspekt ist der entscheidende – er macht Demokratie und Rechtsstaat zum eigentlichen Sieger des Verfahrens. Es genügt für ein Verbot nicht, dass eine Partei verfassungsfeindliche Ansichten vertritt, sie muss zumindest ansatzweise in der Lage sein, ihre Ziele anzustreben: „Lässt das Handeln einer Partei dagegen noch nicht einmal auf die Möglichkeit eines Erreichens ihrer verfassungsfeindlichen Ziele schließen, bedarf es des präventiven Schutzes der Verfassung durch ein Parteiverbot nicht.“ Mit anderen Worten: Das Parteiverbot ist kein Gesinnungsverbot. Das hat sich im KPD-Verbotsurteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1956 noch ganz anders gelesen.
Damals hat das Gericht das Verbot der KPD, die bei der Bundestagswahl 1953 mit 2,2 Prozent von den Wählern marginalisiert worden war, mit den Worten begründet: „Eine Partei kann nach dem Gesagten auch dann verfassungswidrig im Sinne des Art. 21 Abs. 2 GG sein, wenn nach menschlichem Ermessen keine Aussicht darauf besteht, dass sie ihre verfassungswidrige Absicht in absehbarer Zukunft werde verwirklichen können.“ Davon hat sich der Zweite Senat jetzt sehr spät, aber ausdrücklich distanziert. Dass er sich dazu von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ermuntert fühlen durfte, der für ein Parteiverbot eine konkrete Umsturzgefahr verlangt, tut nichts zur Sache.
Was hätte sich geändert, wenn die verfassungsfeindliche NPD verboten worden wäre? Die NPD wäre verschwunden, geblieben wären die Verfassungsfeinde. Sie hätten sich wieder formiert, neue Organisationen gegründet, die erneut verboten, aber eben dann auch wieder in anderer Kostümierung neu gegründet worden wären. Von Anfang an war das Verfahren – wie bereits im März 2003 sein ebenfalls gescheiterter Vorgänger – mit der Erwartung überfrachtet, ein Verbot könne dem Rechtsextremismus und der Fremdenfeindlichkeit den entscheidenden Stoß versetzen. Die Erwartung war nicht nur überzogen, sie war falsch. Denn das Gift des Rassismus wird zwar von der NPD der Bevölkerung in der größtmöglichen Dosis verabreicht, aber längst stehen andere Parteien und Gruppen bereit, die das gleiche Gift, nur eben gestreckt und verdünnt im Angebot haben.
Spätestens seit den Pegida-Aufläufen in Dresden und den Landtagswahl-Erfolgen der zunehmend rechtsradikalen AfD ist klar, dass der Rassismus in allen Schattierungen, der Hass auf „die Politiker“, die „Schwulen“ und „die Muslime“ die Gesellschaft zu verwüsten droht wie die Droge den Körper des Junkies. Wo früher in den Landtagen NPD-Funktionäre hockten und Hassparolen stammelten, sitzen heute an ihrer Stelle – und sehr viel mehr – Funktionäre der AfD, deren Fremdenfeindlichkeit sich von der ihrer Vorgänger nur durch die geringere Militanz unterscheidet. Es genügt ein Blick in die Landtage und in die sozialen Medien, um zu erkennen, dass die Behauptung, Islamophobie und Ausländerhass seien in der Mitte der Gesellschaft angekommen, keine wilde Vision ist, sondern eine ebenso nüchterne wie ernüchternde Bestandsaufnahme.
Hass benötigt kein Parteibuch, aber er braucht einen Lebensraum, ein Biotop, in dem er gedeihen kann. Nur Hass kann in diesem Biotop gedeihen, alles andere – zivile Courage, Humanität – geht in seinen Miasmen zugrunde. Dieses Biotop kann eine Gesellschaft verschlingen. Es lässt sich mit keinem Verbot durch die Justiz aus der Welt schaffen, austrocknen kann es nur die Gesellschaft selbst – durch das Beharren auf ziviler Courage und Humanität.

Berliner Zeitung, 18.01.2017. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.