von Holger Politt, Warschau
Für Michael Glaß, dem das Land hinter Oder und Neiße nicht fremd war.
Polen zählt traditionell zu jenen Ländern, in denen die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft in der Bevölkerung am höchsten ist. Daran haben die teils turbulenten Ereignisse innerhalb und außerhalb des Landes in den zurückliegenden zwei Jahren wenig geändert. Allerdings ist die Gewichtung der unterschiedlichen Positionen in dieser Frage sehr viel deutlicher geworden.
Als nach 1989/90 der Weg marktwirtschaftlicher und demokratischer Reformen zügig eingeschlagen wurde, war die Option einer künftigen Mitgliedschaft in den europäischen Gemeinschaftsstrukturen ein fester Orientierungspunkt, als ob dort ein Leuchtturm wäre am fernen Ufer für das schwankende Schiff auf hoher See. Als dann 2004 Spitzenpolitiker fast aller Richtungen sich öffentlich und triumphierend als überzeugte Europäer darstellten, taten sie es in dem festen Gefühl, den schlimmsten Teil der Wegstrecke bereits zurückgelegt und überstanden zu haben. Zu diesem Zeitpunkt produzierten die knapp sechs Millionen Dänen ein Bruttoinlandsprodukt in der gleichen Höhe wie die knapp 39 Millionen Polen.
Wer damals offen gegen die EU-Mitgliedschaft aufstand, galt als verlorener Außenseiter, als hoffnungslos zurückgeblieben oder eben als jemand, dem – aus welchen Gründen auch immer – die eingeschlagene Richtung nicht passte. Als die Nationalkonservativen von 2005 bis 2007 schon einmal das Zepter in der Regierung schwangen, ließen sie die Frage der EU-Mitgliedschaft aus gutem Grund völlig unangetastet. Zwar betonten sie immerfort, die ganze gesellschaftliche Entwicklung müsse künftig „solidarischer“ und geschichtspolitisch auf die gesunden patriotischen Füße der polnischen Tradition gestellt werden, doch blamierten sie sich schnell angesichts der knallharten Erfordernisse der Entwicklung, rieben sich auf in sinnlosen Scharmützeln mit den eigenen Koalitionspartnern, so dass alle nationalkonservative Verheißung, eine neue, will heißen bessere Republik für alle Polen durchzusetzen, nichts als leeres Versprechen blieb und überdies schnell vergessen wurde.
Die Jahre bis 2015 prägte der Mythos, den schnellen wirtschaftlichen Aufholprozess möglichst ungestört laufen zu lassen – die wirtschaftsliberal ausgelegten Rahmenbedingungen wurden vom allgemein akzeptierten Ziel vorgegeben, denn irgendwann in absehbarer Zukunft sollte der Stand der führenden westlichen EU-Länder erreicht werden. EU-Integration wurde und wird in erster Linie so verstanden, dass es der einzige mögliche Weg ist, die historisch gewachsenen Rückstände innerhalb von zwei, drei Jahrzehnten wettzumachen. Noch 2014 sah der damalige Staatspräsident Bronisław Komorowski gleich einer Autobahn einen breiten Weg geebnet, auf der die junge Generation bald ungestört die verdienten Früchte einsammeln könne, sei doch seit 1989 hart dafür gearbeitet worden.
Der Schock von 2015 sitzt indes noch immer tief, denn seitdem regieren wieder die Nationalkonservativen. Diesmal schrecken sie selbst vor der heiligen Kuh der EU-Mitgliedschaft nicht zurück, auch wenn sie klipp und klar unterstreichen, dass diese Mitgliedschaft an sich nicht zur Disposition stehe. Doch sie haben sich von jenem Teil der Bevölkerung wählen lassen, dem die ganze Richtung der bisherigen EU-Integration nicht passt oder der sich eher als Verlierer auf diesem Weg sieht. Immerhin brachte ihnen dieser Teil im Parlament die absolute Mehrheit der Sitze ein, auch wenn eine Reihe begünstigender Umstände kräftig nachhalf. Jarosław Kaczyński, der starke Mann der Nationalkonservativen, kann nun ungeniert darüber spekulieren, was er eine „kulturelle europäische Konterrevolution oder auch Revolution“ nennt, deren Zeit gekommen sei und deren Demiurgen in der EU in erster Linie Ungarn und Polen sein sollten. Seinen Landsleuten versprach er eine zweite Welle des Kapitalismus – eine polnische. Insbesondere in vier Bereichen solle es künftig nationaler zugehen: in der Medienbranche, auf dem Energiesektor, bei den Banken und im Einzelhandel.
Offenherzig gibt Kaczyński zu, dass ihm die bisherige Art der EU-Integration nicht passt. Ihm schwebe eine andere EU vor, eine lockere Union aus Vaterländern, die wieder stärker der Wirtschaftsgemeinschaft von einst gleiche und die vollen Souveränitätsrechte an die Mitgliedsländer zurückgebe. Um ein für Polen empfindliches Beispiel anzuführen: Die klimapolitischen Ziele aus Brüssel seien ein viel zu weitgehender Eingriff in die Souveränitätsrechte der Mitgliedsländer, Polen brauche im Interesse seiner Energiesicherheit auch weiterhin im hohen Maße die Verstromung von Stein- und Braunkohle.
Kaczyński betreibt die grundlegende Korrektur des polnischen EU-Kurses zu einem Zeitpunkt, da die knapp 39 Millionen Polen ein doppelt so hohes Bruttoinlandsprodukt erzeugen wie die knapp sechs Millionen Dänen. Fast ist es die Frage nach dem halb gefüllten Wasserglas: Ist es halbvoll oder ist es halbleer? An turbulenten innenpolitischen Entwicklungen wird es 2017 in Polen nicht mangeln, doch es werden immer Auseinandersetzungen sein, die am Grundverständnis der EU-Mitgliedschaft rütteln.
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