von Peter Linke
Die Welt wird immer unübersichtlicher und schneller. Auch dem Pentagon ist das nicht entgangen. Wobei eine Frage zunehmend die Gemüter beherrscht: Wie umgehen mit einem Gegner (wie China und Russland), der willens und fähig ist, in immer kürzeren Zeiträumen den technologischen Vorsprung der USA auszugleichen? Nicht zuletzt, weil er aus Washingtoner Sicht ethisch flexibler sei, also über nahezu unbegrenzte Möglichkeiten verfüge, seine Krieger für sogenannte EHOs (Enhanced Human Operations) herzurichten?
Die Antwort: mit Hilfe einer neuen Offset-Strategie zur Wahrung der globalen wehrtechnologischen Führerschaft der USA, der nunmehr dritten seit Ende des Zweiten Weltkrieges.
Während Offset I in den Fünfzigerjahren auf nukleare Abschreckung setzte und Offset II in den Siebzigern auf Präzisionswaffen, Tarnkappentechnologie und Netzwerke, zielt Offset III auf die ultimative Verschmelzung von Mensch und Maschine unter zunehmend chaoplexen Gefechtsbedingungen. Verkündet Ende 2011 vom damaligen Verteidigungsminister Chuck Hagel, avancierte sie unter dessen Nachfolger Ashton Carter zum intellektuellen Dreh- und Angelpunkt wehrtechnischer Innovationsbestrebungen der zweiten Obama-Regierung.
Geschwindigkeit und Beweglichkeit, so argumentierte der promovierte Physiker und langjährige Harvard-Professor für Wissenschaft und Internationale Beziehungen, seien heute der Schlüssel: „Und wegen der Welt, in der wir leben, wird sich der nächste Offset sehr von seinen Vorgängern unterscheiden, ja vielleicht sogar alles andere als eine traditionelle Offset-Strategie sein.“
Human-machine teaming, präzisiert Carters Stellvertreter Robert Work, werde der Maschine erlauben, dem Menschen behilflich zu sein, bessere Entscheidungen schneller zu treffen. Human enhancement, die invasive Modifizierung menschlicher Körper und Gehirne, sagt der gelernte Marineingenieur und ehemalige Marineinfanterist, sei für eine Demokratie wie die USA keine wirkliche Alternative.
Das wichtigste Pfund, mit dem sein Land wuchern könne, seien seine hochqualifizierten und hochmotivierten Menschen. Letztere mit Maschinen zu ermächtigen und nicht durch selbige zu ersetzen, sei daher ultimatives Anliegen von Offset III. Die zentaurische Synergie von maschineller Geschwindigkeit und menschlicher Erkenntnis werde den USA einen entscheidenden Vorteil gegenüber jenen Gegnern verschaffen, die entweder auf das eine oder das andere setzen.
Die nahtlose Kooperation zwischen Mensch und Maschine erfordere freilich gegenseitiges Vertrauen, weiß William Roper, ein weiterer enger Mitarbeiter Carters. Dies umso mehr, als in den Kriegen der Zukunft autonome Systeme eine immer größere Rolle spielen würden: Je autonomer ein Roboter, also je mehr in der Lage, selbstständig Entscheidungen zu treffen, umso geringer die Notwendigkeit eines ständigen Datenaustauschs zwischen ihm und seinem menschlichen „Operator“ (remote controlling) und damit umso größer seine Überlebenschancen (resilience) in durch Feindeinwirkung (jamming, hacking, disinforming) gestörten Netzwerken.
Der promovierter Mathematiker und Raketenabwehrspezialist Roper leitet seit August 2012 das sogenannte Strategic Capabilities Office (SCO) des Pentagon. Untergebracht in Arlington, Virginia, im gleichen Gebäude wie die 1958 gegründete Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), verwendet es sein 900-Millionen-Dollar-Budget darauf, existierende Waffensysteme neu miteinander zu kombinieren oder durch innovative kommerzielle Technologien zu ergänzen.
Im Unterschied zur DARPA, unterstreicht Roper, müsse das SCO keine fundamental neuen Waffensysteme entwickeln: „Vielmehr versuchen wir uns an Interpretationen und operativen Konzepten, die innerhalb kürzester Zeit zu vollkommen neuen Fähigkeiten führen.“ Ein gutes Beispiel dafür sei das Projekt Skyborg: das Zusammenspannen von High-Tech-Kampfjets der 5. Generation, der F-22 Raptor und F-35 JSF, mit unbemannten Versionen älterer Flugzeuge wie der F-16 Fighting Falcon oder der F/A-18 Hornet.
Derweil soll das Abgreifen fortgeschrittener kommerzieller Technologien – vom Google Car bis Pokémon Go – im Rahmen sogenannter Defense Innovation Units (Experimental) kurz DIU(X) erfolgen. Die erste ihrer Art wurde im August vergangenen Jahres in Mountain View, Kalifornien, im Herzen des Silicon Valley aus der Taufe gehoben. Direkt Verteidigungsminister Carter unterstellt, bemüht sich ihr Chef Raj Shah, ehemals Abteilungsdirektor für Strategie beim Firewall-Produzenten Palo Alto Networks, führende Talbewohner wie Apple Inc., Google Inc. oder Facebook Inc. fürs Militär zu begeistern.
Eine zweite Einheit, ebenfalls unter Führung Shahs, öffnete im Juli dieses Jahres an der Ostküste, in Boston, nur wenige Blocks vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) entfernt, ihre Pforten. Die Wahl Bostons, eines wichtigen Standorts biotechnologischer Forschung, lässt vermuten, dass selbst eine Demokratie wie die USA (auch künftig) auf EHOs nicht gänzlich verzichten möchte.
Im September schließlich wurde in Austin, Texas, eine Art DIU(X) light geschaffen: Untergebracht in der sogenannten Capital Factory, einer beliebten Coworking-Plattform im Stadtzentrum, verfügt sie über keinerlei permanenten Mitarbeiterstab, sondern rekrutiert ihr Personal aus Mitgliedern der Nationalgarde und des Reservekorps, die hier unter Aufsicht Christine Abizaids (einer ehemaligen Mitarbeiterin des Nationalen Sicherheitsrates und ausgewiesenen Zentralasien- und Afghanistan-Expertin) ihren jährlichen 39-Tage-Dienst ableisten.
Weitere derartige Zentren militärisch-technologischen Miteinanders sind laut Chris Kirchhoff, DIU(X)-Führungsmitglied und ehemals Direktor für Planung im Nationalen Sicherheitsrat, in Arbeit.
Währenddessen bleibt die Reaktion von Google & Co auf die Offerten des Pentagon gespalten: Einerseits schrecken geringe Gewinnspannen (bei Apple, Google und Facebook betrugen sie 2014 zwischen 30 und 40, bei den erfolgreichsten Rüstungskonzernen dagegen lediglich zwischen 14 und 16 Prozent), unklare Eigentumsrechte sowie eine Vielzahl nervender Auflagen. Andererseits locken stattliche Mittel für Forschung und Entwicklung (mit 64 Milliarden Dollar pro Jahr zählt das Pentagon noch immer zu den größten Einzelförderern weltweit), die Möglichkeit langfristigen Experimentierens sowie unikale Herausforderungen (Schaffung preiswerter und zuverlässiger Kleinsatelliten, kostengünstiger Schwarmtechnologie, innovativer Batterietechnik und dergleichen).
Wesentlich eindeutiger: die Reaktion der traditionellen Rüstungsindustrie. Den Akademiker Carter mochte man dort noch nie, hatte er doch schon sehr früh die Beschaffungspolitik des Pentagon als innovationsfeindlich und schwerfällig gegeißelt und 2010 als zuständiger Vizeverteidigungsminister eines der radikalsten Beschaffungsreformprogramme der Nachkriegszeit (die sogenannte Better Buying-Power-Initiative) auf den Weg gebracht.
Carters Werben um Silicon Valley stieß umgehend auf scharfe Kritik: Die vom Pentagon ins Auge gefassten kommerziellen Technologien, schäumte Northrop-Grumman-Boss Wes Bush, seien weitestgehend frei verfügbar und böten deshalb per Definition keinerlei nationalen Sicherheitsvorteil. Darüber hinaus hätten Google & Co. nicht die geringste Ahnung davon, was das Militär benötige oder wie das Beschaffungssystem des Pentagon zu handhaben sei.
In Donald Trump aber sah man einen natürlichen Verbündeten und förderte ihn entsprechend. Zwar kritisierte der New Yorker Baulöwe und Showman im Wahlkampf die traditionelle Rüstungslobby als Teil des Washingtoner Establishments. Gleichzeitig jedoch machte er Front gegen Silicon Valley und outete sich als konservativer Militärreformer, als Tonnenideologe, mehr interessiert am Ausbau denn am Umbau der Streitkräfte.
Daher war es keine wirkliche Überraschung, als nach dem Wahlsieg Trumps die Aktienkurse von General Dynamics, Huntington Ingalls, Northrop Grumman, Boeing, Lockheed Martin, Raytheon und anderen nach oben schnellten …
Schlagwörter: Ashton Carter, Donald Trump, Militärtechnologie, Peter Linke, Rüstungspolitik, USA