19. Jahrgang | Nummer 25 | 5. Dezember 2016

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal zehn Klaviere und ein Schwimmbecken, gleißender Rossini in schwarzer Kiste und Mummenschanz mit Menschheitsdämmerung…

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Kürzlich sagte Noch-Volksbühnen-Chef Frank Castorf einer Berliner Zeitung über seinen Nachfolger, vielleicht werde der großen Erfolg haben und könne – ein Löffelchen Gift für Chris Dercon – zum prima Anhängsel der Tourismusbranche aufsteigen. Ansonsten mag man ja aus der Volksbühne problemlos eine Badeanstalt machen. Damit wiederholt sich Castorf. Schon vor 24 Jahren, als der Weltglanz dieses Theaters noch in den Sternen stand, meinte der damals frisch installierte Intendant, entweder sei in Kürze sein Haus berühmt oder tot. Und dann kam das mit dem Schwimmbad…
Jetzt hat uns in der Volksbühne der große, von jeder Kritik gebumsfiedelte Abstraktions-Nonsens- und Slapstick-Regie-Künstler Herbert Fritsch vor seinem Abgang nach nebenan an die Schaubühne seine in Rot-Gelb-Grau getauchte Abschiedsinszenierung vorgesetzt; Motto: „Pfusch“.
Sie hat zwei szenische Grundideen: Einmal eine atonale Session mit zehn Klavieren. Auf die hämmert variantenreich und im Staccato das opulente Ensemble ein. All die im Rhythmus perfekten Einschläger sind, ob Männlein oder Weiblein, verpackt in bonbonfarbene Kleidchen und haben Gretel-hafte Perücken auf den Kindsköpfen. Und die performen unentwegt ein Grinsen und Grimassieren. Geht etwa eine reichliche halbe Stunde und ist so originell nicht, sondern bei Christoph Marthaler abgeguckt und von Fritsch ordentlich breit gewalzt.
Die andere Idee ist von Castorf: Ein Loch in der Bühnenmitte wird eine kleine Ewigkeit lang gefüllt mit blauen Schaumbällen und somit umgerüstet zum – richtig! ‑ Schwimmbecken. Jetzt also nach dem Klavier-Hack eine reichliche halbe Stunde Badespaß. Als witziger Wink in die Zukunft. Hat doch die amtierende Kulturverwaltung öffentlich gefordert, man müsse die Volksbühne jetzt weiterdenken.
Den Rest des 100-Minuten-„Pfuschs“ füllen akrobatische Übungen an und mit einer rollenden Riesenröhre. Kennen wir längst aus allen anderen Fritsch-Performances und begreifen: Der Mann klemmt fest im Dauermodus Selbstzitat: Seine Slapstickiaden bis zur Besinnungslosigkeit ausgeleiert in ständiger Wiederholung. Man ist geneigt, besagtes Politiker-Wort vom Weiterdenken an Herbert Fritsch weiterzugeben. – Doch der hat vorgesorgt im Werbeblatt der Volksbühne. Dort heißt es, ihm gehe es nicht darum, einen intelligenten Themenabend zu Pfusch zu entwickeln. „Alles Ordentliche, Wohltemperierte, Virtuose, dramaturgisch Richtige, genau Konstruierte ist nicht gewollt und nicht zu erwarten.“ ‑ Sollte im koketten Understatement von all dem das Gegenteil gemeint sein, war der Abend verpfuscht. Ansonsten gilt: Plansoll an Pfusch erfüllt! – Und Tschüss!

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Lyon ist eine schöne Stadt. Historisches Gemäuer, Boulevards ähnlich wie im Haussmann-Paris, ein Hügel mit Notre Dame (hässlich wie ein auf dem Rücken gefallener Elefant, doch mit Überflieger-Blick; bei Klarwetter bis zu den Alpen). Und schöne Promenaden an den Ufern von Saone und Rhone, einem hypermodernen Bahnhof, einem ebensolchen Airport. Und dann ist da noch die Halbinsel vorm Zusammenfluss der beiden Flüsse, bestückt mit neuen Wohnquartieren sowie spektakulären Solitären für Sport, Business, Soziales, Museales (Regionalgeschichte). Man baut hier offensichtlich deutlich mutiger, abwechslungsreicher, „ungenormter“ als bei uns und engagiert dafür Spitzen der internationalen Architektenschaft.
Zu denen gehört der französische Pritzker-Preisträger Jean Nouvel, der das 1862 errichtete neoklassizistische Opernhaus 1989 „radikal“ umbaute. Er entkernte das Logentheater bis auf ein Stückchen Stuck-Foyer mit Lüstern, Buffett und vier Bänken als spartanische Sitzgelegenheit (auch den Kaffee gibtʼs nur schwarz, ohne Milch). Und er hängte kühn den 1100-Plätze-Saal in den entstandenen Leerraum. Wo einst Treppengehäuse waren, schweben nun wenige enge Lifts (Publikums-Stau), hängen Feuerwehrtreppen aus Zinkblech mit Lochmuster (machen schön Krach, sind schlecht für Pumps).
Als besonders tollkühn freilich mag Nouvels Idee gelten, alles in schwarz zu tauchen. Tiefschwarz. Das wird bestrahlt von gleißenden LED-Strahlern. Man bräuchte Sonnenbrillen. Unbedingt aber braucht man die Platzanweiser. Denn in der Blackbox mit ihren sechs Rängen sind – fatales Blend-Licht! ‑ die Sitz-Nummern nicht erkennbar. Immerhin, die Sicht auf die Bühne ist überall bestens in dieser beklemmend sarghaften Großkiste. Dafür lockt das Drumherum zu keinerlei Aufenthalt. – Stark schwarz gefärbtes Konzept, schwache Funktion.
Ach ja, etwa in halber Höhe des historischen Gehäuses hat Nouvel den horizontalen Schnitt gemacht und ihm einen gläsernen Halbzylinder aufgestülpt für Büros, Technik und ein Restaurant, das geschlossen war. Also nichts für Flaneure; radikale Architektur, aber unwirtlich.
Zur Entschädigung gab’s neulich ein bravouröses Rossini-Konzert mit dem Belcanto-Liebesopern-Chaos „Ermione“, das im tragischen Antikentum trällert und nur selten live zu Ohren kommt. Man muss also per Billigflug nach Lyon zum artifiziellen Virtuosentum. Unter Führung des sagenhaften, sagenhaft fitten Rossini-Spezies Alberto Zedda, Jahrgang 1928. Ovationen und Blumen für den zierlich greisen Rossini-König. Und fürs internationale Star-Ensemble. ‑ Die grandiose, höchst kunstvoll veredelte Form, sie liebt man im göttlichen Frankreich. Wie auch andersartige Preziosen, etwa solche aus Allemagne. Da gibt es in der „Nouvel-Operá“ eine Heiner-Müller-Inszenierung von Wagners „Tristan“. Oder eine von Ruth Berghaus: „Elektra“ von Strauss – beides mehrmals im März 2017 (ein Tipp für Fans). Die Regisseure sind zwar längst tot, doch hier lebt ihr grandioser Nachlass. Bei uns hingegen wird allzu viel wirklich Gelungenes mit der Sucht nach Neuinszenierungen vorschnell weg geworfen.

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So was hat man lange nicht gesehen. Oder vielleicht doch, fast ein Halbjahrhundert ist‘s her: Da prunkte der unvergessliche Horst Sagert am Berliner Deutschen Theater mit artifiziellen Ausstattungs-Orgien. Jetzt jedoch wuchtete der virtuos mit Abstraktionen jonglierende Multimedia-Meister Achim Freyer leichthändig ein dadaistisches Großkunstwerk ins Berliner Ensemble. Es heißt „Abschlussball. Ein Lamento in Bildern“.
Es ist ein Lamento als furiose Materialschlacht. Zunächst der neubarocke Zuschauerraum: Ein süß schimmernd oder auch gruselig dämonisch illuminierter, mit rotierenden Riesenspiegeln versetzter Traumpalast. Zuweilen wird es stockfinster, dann wieder huschen vorn auf der Bühne Schatten, formen sich zu einem Reigen skurriler Fabelwesen, grotesk kostümierter Menschen, possierlicher Tiere. Da summt und zirpt, singt und kracht es. Kein wirklicher „Text“, vielmehr eine Springflut poetisch sinniger oder verkopft kryptischer Bilder. Ein Mix aus Lust und Horror, Überwältigung und Überforderung, Betäubung und Anregung. Ein Überangebot an Raffinesse und Fantasie, erinnernd an die so entsetzlichen wie auch komischen Eingebungen des Renaissance-Meisters Hieronymus Bosch.
Dieser Mummenschanz vornehmlich für Augen- und Gefühlsmenschen in dem zur Wunderkammer hergerichteten BE ist das suggestive Sinnbild einer Menschheitsdämmerung. Eine Art Weltuntergangsfantasie. Ein liebevoll ziselierter Alptraum von Abschlussball, vom schönen, schön komischen, schön bösen und grotesk schrecklichen, zuweilen gar kriegerischen Tanz ins Nichts. Vielleicht das Schlusswort des 82 Jahre alten Achim Freyer. Mit Verve, Grandezza und Witz aber eben auch klagend hingeworfen. Alles ein grinsend Weh und todtraurig Ach.