von Wolfgang Brauer
Bücher haben mitunter merkwürdige Geburtshelfer: Da fuhren zwei Norweger im Juni 1998 nach Bordeaux, um ein langweiliges Spiel ihrer Nationalelf gegen Schottland zu erleben – und das greifbarste Ergebnis dieses Trips sollte eine Leonardo-da-Vinci-Biographie werden, auf dessen Grab in der Kapelle St. Humbert beim Schloss Amboise an der Loire sie rein zufällig stießen. Norwegen flog übrigens im Achtelfinale gegen Italien aus dem Turnier, nachdem es zuvor sensationell Brasilien besiegt hatte. Einem der beiden, Atle Næss – wir hatten schon seine Edvard-Munch-Biographie vorgestellt – stieß angesichts erlebter italienischer Renaissance-Gräber der Widerspruch zwischen der bescheidenen Grablege Leonardos und seiner bereits zu Lebzeiten anerkannten Bedeutung auf. Næss begann, in den darauffolgenden Jahren „Leonardos langen Weg von Vinci nach Amboise zu untersuchen“. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Aus der Fülle der Leonardo-Literatur hebt sich das Buch des Norwegers auf zweierlei Weise ab: Es ist auch für „Nichteingeweihte“ auf verständliche Weise lesbar. Und der Autor erliegt nur in kurzen Momenten einem Geniekult, der sich beim Betrachten der Werke und der Biografie Leonardos bei manchen Autoren offenbar auf Pawlowsche Weise oft einstellt.
Atle Næss teilt natürlich Giorgio Vasaris Anekdote („Lebensbeschreibungen der ausgezeichneten italienischen Baumeister, Maler und Bildhauer“) über die künstlerische Kapitulation Meister Andrea del Verrocchios vor seinem Schüler Leonardo mit. Wie üblich bei Werkstattarbeiten durfte Letzterer im ab 1470 entstandenen Tafelbild „Die Taufe Christi“ (Florenz, Galleria degli Uffizi) zunächst eine Nebenfigur ausarbeiten, den am linken Bildrand knieenden Engel: „Obwohl noch sehr jung, führte er doch diese Gestalt so vollkommen aus, daß sie ein besseres Ansehen gewann als die Figuren von Andrea; und Andrea, unwillig, daß ein Kind mehr wisse als er, mochte deshalb von der Zeit an nicht mehr mit Farben umgehen.“ Das „Kind“ war zu diesem Zeitpunkt mindestens 18 Jahre alt. Andrea, der Meister, arbeitete übrigens mit Temperafarben, der Schüler benutzte Öl. Wenige Jahre später überarbeitete Leonardo auch den im Zentrum des Bildes stehenden Christus, von Andrea natürlich mit Tempera gemalt, mit Ölfarben.
Leonardo hatte eine Vorliebe für Öl. Næss beschreibt ausführlich das Ringen des Malers um die jeweils seinem Bildanliegen am besten entsprechende Technik und spart auch nicht die damit verbundenen Fehlleistungen des ob seines Perfektionismus-Strebens – das kostete Zeit… – von seinen Auftraggebern stets misstrauisch beäugten da Vinci aus. Seit spätestens 1726 konnten Generationen von Restauratoren des „Abendmahles“ (1495-1497; Mailand, Santa Maria delle Grazie) ein Lied über die Folgen der Experimentiersucht des Meisters singen. Im Zweifel ließ Leonardo eine Arbeit lieber liegen und wandte sich Neuem zu. „Lionardo unternahm Vielerlei aus Verständnis der Kunst, beendete aber nie etwas.“ So kommentierte Giorgio Vasari diese Eigenart. Ausgerechnet Vasari blieb es dann vorbehalten, Leonardos wahrscheinlich bedeutendstes Bild, die „Anghiarischlacht“ im „Saal der Fünfhundert“ des Palazzo Vecchio in Florenz, mit einer sehr mittelmäßigen Schlachtendarstellung zu übermalen.
Leonardos Bild wurde übrigens nie fertig. 1506 brach er die Arbeit daran ab. Auch hier nahmen technische Probleme – er versuchte mit aller Macht und etlichen Tricks Öl auf dem Putz haltbar zu machen – überhand. Dazu kamen politische Aspekte, solche finanzieller Natur und sicherlich spielte die – aus Sicht Leonardos – Zumutung eine Rolle, sich im selben Saale mit dem eine Generation jüngeren Michelangelo Buonarroti, der die Schlacht von Cascina gegen Pisa verewigen sollte, zu messen. Atle Næss‘ Beschreibung des – durchaus von gegenseitiger Anerkennung geprägten – wohl eher feindlichen denn „nur“ von Konkurrenz getrübten Verhältnisses der beiden florentinischen Renaissance-Größen zueinander ist ein Höhepunkt seiner Biographie.
Zumindest Leonardo versuchte, auch beim Jüngeren zu lernen: Im Band ist seine Skizze des Michelangeloschen „David“ (1504) abgebildet. Die (geplanten) Großplastiken Leonardos kamen nie zur Ausführung. Das die Zeitgenossen beeindruckt habende Tonmodell des Reiterstandbildes Francesco Sforzas (1490-1493, im Auftrage des Mailänder Herzogs Ludovico Sforza) benutzten Armbrustschützen des französischen Königs Ludwig XII. 1499 für Zielübungen. Ob die technische Umsetzung des Gusses von Erfolg gekrönt gewesen wäre, muss auch Næss offen lassen. Allerdings widmet er den Ingenierleistungen Leonardos und seinen naturwissenschaftliche Studien breiten Raum.
Auch diese ordnet er überzeugend in jene Zeit des Umbruches ein. Seit einigen Jahren tourt eine Wanderausstellung durch Europa, die gerade die Ingenieurarbeiten da Vincis herausstellt. Allerdings: „Leonardos Ingenieurskunst erschien als die Kulmination einer kollektiven Entwicklung, die sich über mehrere Jahrzehnte hinweg vollzog, besonders in Florenz und Siena, aber auch an anderen Orten Italiens.“ So Atle Næss. Das ist mitnichten eine Herabminderung der Leistungen Leonardo da Vincis. Von Goethe stammt das Bonmot, dass sein Werk das eines „Kollektivwesens“ sei, das Goethe hieße… Bei Leonardo da Vinci ist das, bei aller singulären Genialität, nicht anders. Atle Næss stützt sich bei seinen Überlegungen auch auf Paolo Galluzzi, den Leiter des Galilei-Museums in Florenz, dessen grundlegendes Werk „Ingenieure der Renaissance“ (Florenz 1996) es meines Erachtens verdiente, endlich in einer deutschen Ausgabe vorgelegt zu werden. Jedoch ist zu konstatieren, dass die meisten Entwürfe Leonardos zu seinen Lebzeiten nicht umgesetzt wurden – und aufgrund erheblicher, in der Regel technisch bedingter Hürden auch nicht umgesetzt werden konnten. Der Autor zitiert am Beispiel des Flugapparates da Vinci selbst, der einräumte, dass die Streben der Flügel besser nicht aus Metall gefertigt werden sollten, dies könne brechen. Allerdings soll er einen ersten Gleitflugversuch vom Monte Ceceri bei Florenz unternommen haben (lassen). Der Pilot, ein Assistent Leonardos namens Tommaso Masini, hatte offensichtlich Glück und kam mit geringfügigen Blessuren davon.
Über die „Nebenwirkungen“ seiner Erfindungen machte sich Leonardo zumeist wenig Gedanken. Næss berichtet an vielen Stellen seines Buches, mit welchem Eifer der Erfinder sich immer wieder gerade mit seinen kriegstechnischen Kreationen den fürstlichen Gewalttätern seiner Zeit andiente – von den Medici über die Sforzas bis hin zu Franz I. von Frankreich. Zumindest vor einem Einfall packte ihn aber selber die Furcht: „Meine Methode, sich unter Wasser aufzuhalten […] schreibe ich nicht nieder, veröffentliche und verrate ich nicht aufgrund der bösen Natur der Menschen. Sie werden sie zum Meuchelmord vom Meeresboden aus verwenden […]“. Es hat dann noch rund 350 Jahre gedauert, bis seine Horror-Vision im amerikanischen Bürgerkrieg erstmals Wirklichkeit werden sollte.
Atle Næss hat ein überaus lesenswertes Buch geschrieben. Wer sich gründlicher mit dem Künstler Leonardo da Vinci beschäftigen möchte, sollte zu Frank Zöllners zweibändiger Darstellung des Gesamtwerkes greifen. Aber um Leonardos Wirken in seiner Zeit zu verstehen, um die Wirkungsbedingungen von Künstlern und Naturwissenschaftlern zu Beginn der Neuzeit zwischen 1450 und 1550 besser verstehen zu können, ist seine Biographie trefflich geeignet. Dan-Brown-Fans („The Da Vinci Code“/„Sakrileg“) dürften nach der Lektüre ernüchtert sein. Næss stellt die Geschichte wieder vom Kopf auf die Füße.
Atle Næss: Leonardo da Vinci und seine Zeit. Eine Biographie, Berlin University Press, Wiesbaden 2016, 346 Seiten, 34,00 Euro.
Schlagwörter: Atle Næss, Leonardo da Vinci, Michelangelo, Renaissance, Wolfgang Brauer