von Wolfgang Hochwald
Trotz der abnehmenden Verkaufszahlen bei Tonträgern bleiben CDs gerade zu Weihnachten ein beliebtes Geschenk. Die rechte Zeit also, einmal darauf zu schauen, was für mich die wichtigsten und schönsten Platten des Jahres 2016 waren und für welche Zielgruppe diese das passende Geschenk zu Weihnachten sein könnten.
Für die Freunde handgemachter Gitarrenmusik wäre „The Ghost of Highway 20“ von Lucinda Williams eine Bereicherung. Der inzwischen 63-Jährigen gelang erst 1998 und damit zwanzig Jahre nach ihrem Debütalbum mit „Car Wheels on a Gravel Road“ der verdiente kommerzielle Durchbruch. Seitdem gilt sie als eine der wichtigsten Vertreterinnen des Alternative Country. Mit ihrer neuen Platte hat sie eine rohe, ungeschliffene, an Blues, Rock und Country orientierte Musik vorgelegt, deren Texte offensichtlich vom Tod ihres Vaters, des Dichters Miller Williams, beeinflusst sind. Der Schatten des Todes ist deutlich zu spüren in Stücken wie „Death Came“ oder „Doors of Heaven“, aber auch im Springsteen Cover „Factory“, das dieser ebenfalls für seinen Vater geschrieben hatte. Dass uns die Musik von Williams aber nicht in die Winterdepression treibt, ist den beiden famosen Musikern Greg Leisz und Bill Frisell zu verdanken. Ein zufriedener stimmendes Zusammenspiel von zwei Gitarren – konsequent jeweils auf der linken und der rechten Lautsprecherseite platziert – gab es dieses Jahr nicht zu hören.
Eine Winterdepression aber hatte offensichtlich Conor Oberst, als er sich vor einem Jahr aus New York in seine Heimatstadt Omaha zurückzog. Oberst – 1980 geboren – hat bereits mit 13 seine ersten Aufnahmen veröffentlicht und seitdem solo und mit verschiedenen Bands, vor allem den auch kommerziell erfolgreichen „Bright Eyes“, eine Vielzahl von Platten aufgenommen. Allein in seinem Haus im Winter 2015/16 glaubte er zunächst zwar, wie den Liner Notes zu entnehmen ist, er könne niemals wieder einen Song schreiben. In langen Nächten entstanden dann aber doch neue Lieder, die er schließlich an zwei Tagen im Studio einspielte, begleitet nur von Klavier, Akustikgitarre und Mundharmonika. So wurde „Ruminations“ ein karges Album in klassischer Singer/Songwriter-Tradition, das an „Nebraska“ von Bruce Springsteen erinnert. Vielleicht sind seine Texte zu Weihnachten etwas schwer erträglich, aber die Überzeugung und Dringlichkeit, mit der Oberst die Stücke vorträgt, wird dem Fest Tiefe geben.
Singer/Songwriter-Musik, die optimistischer und poppiger daherkommt, bietet die aktuelle Platte von „Passenger“ mit dem Titel „Young As The Morning Old As The Sea“. „Passenger“, das ist der 32-jährige Mike Rosenberg, der jahrelang als Straßenmusikant um die Welt gezogen ist und 2012 einen Überraschungshit mit „Let Her Go“ landete, einem Lied, das den Radioalltag dank seiner unwiderstehlichen Melodie und dem ansprechenden Text aufhellte. Auf seinem aktuellen Album gelingen Rosenberg erneut eingängliche Melodien, die dennoch nie beliebig klingen. Und er liefert im Song „When We Were Young“ mit dem Satz „Years leave quicker every time they come“ (etwa: Die Jahre vergehen schneller als sie kommen.) die Überschrift für so manchen persönlichen Rückblick zum Jahresende. Eine erweiterte Ausgabe der CD enthält die Akustikversionen von sechs der insgesamt zehn Songs, die die Schönheit der Lieder noch besser zur Geltung bringen.
Wer es fröhlich und beschwingt haben will und nicht glauben mag, dass es eine deutsche Band gibt, die „luftige Pop Songs“ (Rolling Stone) voller Kurzgeschichten schreiben kann, dem sei „Wer Bringt Mich Jetzt Zu Den Anderen?“ von „Die Höchste Eisenbahn“ empfohlen. Die Band aus Berlin, die von Franceso Wilking und Moritz Krämer geprägt wird, macht warme, sonnige Musik und erzählt dabei skurrile Geschichten. Mangels passender Etikettierung haben die deutschen Musikjournalisten versucht, den Sound der Band als Yacht Rock (darunter wird auch die Musik der „Eagles“ Ende der Siebziger subsummiert) oder als von Brian Wilson (maßgeblicher Komponist der „Beach Boys“) beeinflusst zu bezeichnen. Den Humor der Band und ihren Spaß an diesen Einordungsversuchen kann man in einem Doppelinterview von Wilking und Krämer erspüren. Band und Interviewer einigen sich schließlich augenzwinkernd darauf, „Die Höchste Eisenbahn“ mache „Cloudrap“. Was bei Lucinda Williams die beiden Gitarren sind, ist bei der „Eisenbahn“ der unglaublich gut passende Harmoniegesang der beiden Künstler. Näher an Beatles-Harmonien kann es Weihnachten nicht klingen.
Wohlgefühl verbreitet auch die neueste Platte von Van Morrison „Keep Me Singing“. Der 71-Jährige hat zumindest für diese Scheibe alles Ungebärdige und Laute verbannt und liefert uns ein Songjuwel nach dem Anderen. Da mag das ein oder andere Gitarren- oder Pianosolo etwas vorhersehbar sein, sobald jedoch der Altmeister mit seiner unverkennbaren Stimme wieder einsetzt, ist dies schnell vergessen und man lauscht ergriffen den wie gemalten, erhabenen Stücken. Und vielleicht kann er uns mit dem Song „The Pen Is Mightier Than The Sword“ (Der Stift ist mächtiger als das Schwert.) auch etwas weihnachtliche Hoffnung in dieser merkwürdigen Weltenlage geben.
Für Freunde traditioneller amerikanischer Folk-Musik und für Eisenbahnfans haben Billy Bragg und Joe Henry „Shine a Light – Field Recordings from the Great American Railroad“ eingespielt. Der Brite Bragg hat in seiner Musik immer wieder gewerkschaftsnahe Themen besetzt und für mehr soziale Gerechtigkeit in seinem Heimatland gekämpft. Seinem auch politischen Vorbild Woody Guthrie setzte er zusammen mit der amerikanischen Band „Wilco“ ein Denkmal, indem er zu Texten, die Guthrie hinterlassen hatte, die Melodien schrieb („Mermaid Avenue 1 – 3“). Mit dem amerikanischen Songwriter Joe Henry hat Bragg sich nun mit dem Mythos der amerikanischen Eisenbahn auseinandergesetzt und das auf ganz praktische Weise. Die beiden Musiker sind im März dieses Jahres 2.728 Meilen mit dem „Texas Eagle“ von Chicago nach Los Angeles gefahren und haben – in Wartehallen, auf dem Bahnsteig, im Zug – Songs aufgenommen, die sich mit der amerikanischen Eisenbahn, ihrer Bedeutung für die Eroberung des Kontinents, der Einsamkeit der Reisenden, der Symbolik des Reisens und dem Verfall der Eisenbahn befassen. Die insgesamt 13 Songs, bei denen man oft die Hintergrundgeräusche des Bahnverkehrs hört, sind Traditionals oder stammen zum Beispiel von Hank Williams, Lead Belly, Jimmy Rogers oder Glen Campbell und werden von Bragg und Henry mit ihren beiden akustischen Gitarren auf ihre Ursprünglichkeit zurückgeführt. Im lesenswerten Begleitheft erzählen die Musiker zudem die Geschichten hinter den Liedern. So stammt der Titel der CD „Shine A Light“ aus dem Song „The Midnight Special“. Letzterer war der Zug, der jede Nacht von Houston nach San Antonio fuhr und dabei am Sugarland Gefängnis in der Nähe von Houston vorbeikam und sein Licht für einen kurzen Moment in das Gefängnis warf. Der Legende nach war der Gefängnisinsasse, auf den das Licht fiel, derjenige, der als nächster entlassen wurde. Nach vier Tagen Zugfahrt erreichten Billy Bragg und Joe Henry um 4:30 Uhr morgens Los Angeles, eine Stunde zu früh. (Was würde die Deutsche Bundesbahn wohl dazu sagen?). In der Union Station nahmen sie als letzten Song „Early Morning Rain“ von Gordon Lightfood auf. Mit dem Zwitschern der Vögel im Hintergrund gibt uns dieser Song einen Vorgeschmack und Hoffnung auf den nächsten Frühling. Aber vielleicht ist es ja wie schon so oft Heiligabend wärmer als im April.
Lucinda Williams: The Ghost of Highway 20, Highway 20 Records 2016, 16,99 Euro.
Conor Oberst: Ruminations, Nonesuch 2016, 15,99 Euro.
Passenger: Young As The Morning Old As The Sea, Black Crow Records 2016, 17,49 Euro.
Die Höchste Eisenbahn: Wer Bringt Mich Jetzt zu Den Anderen?, Tapete 2016, 16,99 Euro.
Van Morrison: Keep Me Singing, Caroline 2016, 14,99 Euro.
Billy Bragg und Joe Henry: Shine A Light – Field Recordings from the Great American Railroad, Cooking Vynil 2016, 15,99 Euro.
Schlagwörter: Billy Bragg, Conor Oberst, Die Höchste Eisenbahn, Joe Henry, Lucinda Williams, Musik, Passenger, Van Morrison, Wolfgang Hochwald