von Wolfgang Brauer
1982 malte Otto Niemeyer-Holstein sein „Winterbild mit zwei Menschen – Eisreste am Strand“. Auf diesem sehr flächig gehaltenen Ölbild verschwindet das Paar im Mittelgrund des Bildes fast in der es umgebenden Landschaft. In dieser scheint sich – wie so oft bei Niemeyer-Holstein – die Saumkante des Meeres beinahe aufzulösen. Die Küste scheint zu zerfließen, gewinnt eigentlich erst mit dem in einem oliven Grün gehaltenen Bewuchs der Düne Gestalt. Das Bild stimmt melancholisch. Es ist ein sehr wehmütiger Abgesang dieses „Patriarchen der Spätmoderne“, wie ihn Matthias Flügge nennt.
Das „Winterbild …“ ist derzeit in der Neuen Galerie des Atelier-Museums Otto Niemeyer Holstein im Koserower „Lüttenort“ auf Usedom zu sehen. Dort ist es Bestandteil der 2. Jubiläumsausstellung (nach den Gemälden nun die Aquarelle und Zeichnungen) zum 120. Geburtstag des Künstlers – er wurde am 11. Mai 1896 in Kiel geboren –, die mit dem etwas sperrig geratenen Titel „Die Moderne im Licht des Nordens – Hommage an Otto Niemeyer-Holstein“ daherkommt. Man erwartet damit auch Munch und Nolde und wird allerdings nicht enttäuscht, „nur“ Niemeyer-Holstein zu sehen. Schließlich war das ja auch der Grund, sich nach Lüttenort zu bewegen …
Die Ausstellung selbst ist sensibel kuratiert – neben Bekannterem hängt seltener Gezeigtes. Es ist spannend, sehen zu können, wie Niemeyer-Holsteins Sujets im Verlaufe der Jahrzehnte immer wieder auftauchen und dann in verwandelter Gestalt den neuen Blick auf scheinbar Bekanntes erzwingen. In der Ausstellung findet sich ein treffliches Beispiel. Aus dem Jahre 1956 stammt – im Sujet dem „Winterbild …“ nicht unähnlich – die eindrucksvolle Kohlezeichnung „Eisberge“. In der Ausstellung hängt das 1979 entstandene Blatt „Zwei Eisberge“ (Aquarell und Kohle). Auch hier ist die Grenze vom Land zur See nur zu ahnen. Die von der See zum Himmel ist noch verschwommener. Die Landschaft bildet eine kompakte Einheit. Von der Farbgebung her dominiert das Blau in vielfältigsten Abstufungen, im Vordergrund das schmutziggraue Eis. Dem graublauen Meereseis ist partiell ein helles Grün beigemischt. Die Wirkung auf den Betrachter ist überwältigend. Das bringt nur jemand fertig, der mit präzisem Blick und zugleich einem extremen Einfühlungsvermögen in die komplexen Erscheinungsbilder scheinbar unspektakulärer Landschaften über das handwerkliche Rüstzeug verfügt, diese Stimmungen im Bild zu bannen.
Otto Niemeyer-Holstein ist in dieser Hinsicht eine der großen Ausnahmepersönlichkeiten in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts. Sicher kann und muss man ihn mit Theodor Rosenhauer und Bernhard Kretzschmar in einem Zusammenhang sehen. Auch sind einige Vertreter der „Berliner Malerschule“ ihm sehr wesensverwandt. Man darf gespannt sein auf die am 7. April 2017 beginnende Schau, die sich mit den Beziehungen zwischen Niemeyer-Holstein und dem 2001 verstorbenen Berliner Künstler Manfred Böttcher auseinandersetzen wird.
Über die Einordnung Otto Niemeyer-Holsteins in die Kunstlandschaft des 20. Jahrhunderts ist das letzte Wort sicher noch nicht gesprochen. Matthias Flügge habe ich eingangs zitiert. Lothar Lang bezeichnete die Malerei Niemeyer-Holsteins 2002 als einen „Grundpfeiler der humanistischen Kunst in der DDR“. Abstraktere Menschen rümpfen die Nase über „Heimatmalerei“. Letzteres ist Unsinn. Einig sind sich wohl alle mit einem sehenden Auge Ausgestatteten darin, dass die Kunst Otto Niemeyer-Holsteins ein Solitär ist. Kaum ein anderer hat sich mit der Landschaft der Küste in dieser Intensität mit derart hoher artifizieller Qualität in Malerei, Zeichnung und Druckgrafik auseinandergesetzt. Und kaum einer ist begrifflich wohl derart schwer zu fassen wie dieser Künstler, der sich 1933 von Berlin auf ein kleines Stückchen unwirtliches Land zwischen Achterwasser und Meeresstrand zurück- und politischer Vereinnahmung fortan immer entzog. Mir kommt das 1963 gemalte Ölbild „Klostergarten im Winter“ gleichsam wie ein verkapptes Selbstporträt des Malers vor: Sein Innerstes scheint verborgen – und geschützt! – unter einer dicken Decke aus Schnee und Eis.
Aber eines ist sicher: Niemeyer-Holsteins Kunst ist ein über lange Jahrzehnte und über alle politischen Wirrnisse hinweg mit großer Beharrlichkeit gesungenes Hohelied auf die Malerei, dem sich wohl niemand entziehen kann, der sich ihr unvoreingenommen nähert.
Der Usedomer Maler Matthias Wegehaupt erzählte 2015 eine schöne Anekdote, der kaum etwas hinzufügen ist: „Evviva la pittura, rief uns Otto Niemeyer Holstein als Abschiedsgruß manchmal zu, es lebe die Malerei!“
Ja, das ist es. Und genau dem kann derzeit in Lüttenort wieder nachgespürt werden.
Die Moderne im Licht des Nordens – Hommage an Otto Niemeyer-Holstein zum 120. Geburtstag. Die Zeichnungen und Aquarelle. Noch bis 2. April 2017, Atelier Otto Niemeyer-Holstein, Lüttenort/Koserow auf Usedom, Mittwoch bis Sonntag (außer Freitag) 10.00 Uhr bis 16.00 Uhr.
Die zitierten bildnerischen Arbeiten lassen sich über das im Internet frei zugängliche Werkverzeichnis Otto Niemeyer-Holsteins erschließen.
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