19. Jahrgang | Nummer 21 | 10. Oktober 2016

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Kollektiv traumatisierter Realitätsverdränger, ein mannstolles Girlie nebst mythenbekränzter Heulsuse…

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Shermin Langhoff, Intendantin des „Theater des Jahres 2016“, gelang ein super Coup: Sie band Yael Ronen fest an ihr Haus, das Berliner Maxim-Gorki-Theater. Ist doch die israelische Autorin und Regisseurin berühmt für den Mut, in ihren „Projekten“ an allen Arten von Tabus energisch zu rütteln wie kaum jemand anderes. – Ronens unter Migranten recherchierte, hoch spannende sozialpsychologische Semidoku „Situations“ (am gorki uraufgeführt) wurde denn auch zum „Stück des Jahres 2016“.
Jetzt hat sie mit „Denial“ ähnliches geliefert. Ihre Methode: Das Mixen von Fiktivem und Authentischem. Aus ihren eigenen Erfahrungen sowie denen ihres jeweils speziell zusammen gesetzten Ensembles und noch dazu dem Wissen von Experten (hier: Psychiater, Historiker, Jurist, eine Energie-Therapeutin, ein Hypnotiseur), also aus zugespitzt problematischen, widerspruchsprallen Realitäten keltert Ronen aufwühlende Geschichten, die sie Nummern gleich wie eine Sketchparade aneinander reiht. So entsteht ein Amalgam aus psychotherapeutischer Gruppensitzung und sozialpsychologischem Exkurs. Obendrein ist die Regisseurin bemüht, mithilfe ihrer Bühnenbildner, Licht- und Videokünstler oder mittels Popmusik und Tanz das Ganze theatralisch aufzuhübschen, was effektvoll ist, doch letztlich überflüssig. Die Inhalte wirken allein für sich intensiv, zuweilen schockierend und polarisierend.
Das Thema setzt schon der Titel „Denial“; zu Deutsch Verleugnung, Verdrängung, Annahmeverweigerung. Es geht also ums Unter-den-Teppich-Kehren von schwer erträglichen Realitäten. Die Gründe dafür sind komplex: Traumata, Scham, Angst, Überlebenswille ‑ so manche Wahrheit kann tödlich sein. So manche Verdrängung kann aber auch (zunächst) erleichtern, so manche Lüge vermag (zunächst) Wunden zu heilen; kann aber auch zu seelischen Deformationen, zu Aggression und Depression führen, schlimmstenfalls zu Paranoia – spätestens dann muss die bittere Wahrheit unbedingt ans Licht.
Ronens „Denial“-Stories werden von einer Handvoll Schauspieler vornehmlich monologisch von der Rampe weg hörspielartig erzählt oder auch, was problematisch ist, comedyhaft performt (lästig dabei trotz Übersetzung via Videoband: die hin und her wechselnde Mehrsprachigkeit). Es geht alles in allem um menschliche Katastrophen, die ihren Ursprung haben in gewissen Lebensumständen, im Kulturellen oder Religiösen, Familiären, Politischen, Sexuellen, in Geschlechterbeziehungen oder körperlichen und seelischen Konstitutionen. Manche der Berichte streifen in ihrer Dramatik und Tragik Sujets von Ibsen oder Strindberg. Manche sind aber auch, halten zu Gnaden, dieses Mal einigermaßen platt. – Am Schluss steht die große Frage (in einem starken Monolog über Kindsmissbrauch): „Darüber reden transportiert womöglich den Horror aus dem Kopf in die Welt; aber wer will in einer solchen Welt leben?“

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Eine wohlstandverwahrloste Göre aus verrucht höheren Kreisen verknallt sich in einen moralisierenden Fundi, der sich partout nicht von ihr küssen lassen will. Sie rächt sich, indem sie – nach einigem Hin und Her ‑ vom allmächtigen Stiefpapa dessen sturen Kopf fordert, der ihr dann – so geschehen in Michael Schulzes „Salome“-Inszenierung an der Dresdner Semperoper – in einem Geschenkkarton mit Silberschleife überreicht wird. Den abgeschlagenen Schädel im Schoss besingt nun in allerhöchsten Tönen das verzückte Mädel (hinreißendes Rollendebüt der Amerikanerin Jennifer Holloway) das Hohelied einer vergeblichen Mädchenfrau-Liebe.
„Nichtiger Unfug, vermählt mit Unzucht“, wütete kaltblütig Cosima Wagner nach der Uraufführung des überhitzten Einakters 1905 an der Dresdner Hofoper. Der Komponist Richard Strauss sprach abwiegelnd von einem „Scherzo mit tödlichem Ausgang“. Mit „Scherzo“ war das besagte Hin und Her vor dem Kopf-runter gemeint, das die Regie lustig ausmalt als spießiges Kleine-Leute-Gezänk im Kinderzimmer mit neckisch gespreizter Nackttanz-Show für den lüsternen Papa (und das erstaunte Publikum). Soweit so flach. Doch dann kommt das gigantische Aufbäumen, der Wahnsinns-Aufschrei nach Liebe übers tosende Orchester hinweg (Dirigent: Omer Meir Welber). Zu diesem tiefen Sturz aus der rosa Lilofee-Welt in den rabenschwarzen, philosophisch umwölkten Abgrund will jedoch die lachhafte, harmlos kunterbunte Kleinbürgerei nun überhaupt nicht passen. Denn: Im grotesken Scherzo steckt in Wahrheit das entsetzliche Grauen einer brutal despotischen Gesellschaft. Überhaupt: In diesen 100 Minuten Überwältigungsmusik rumort in jedem Ton das Unheimliche, Unrichtige, Verzweifelte, das Angst- und Verhängnisvolle. „Salome“ ist vom ersten zart zirpenden Klang bis zum monumentalen, atemberaubenden Ausklang Tragödie. Doch die fiel schlichtweg aus; trotz allen dramatischen Schöngesangs. Stattdessen spaßiger Kindergeburtstag, an dem zum Schluss ‑ als schlechter Witz ‑ ein Kopf rollt, ein ungeliebtes Kind verdirbt. Was für ein Missverständnis.

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Da hat ein sensibles Mädel die Faxen dicke mit ihrem Kerl – kaum kommt er, schon ist er gekommen und wieder weg. Also immerzu bloß das gleiche fixe Hin und Her. Blindlings. Da kann man verstehen: Sie will endlich ihre Ruhe! Aber: Es gibt noch einen zweiten Störfaktor neben der anstrengenden Sexerei; sie ist Schriftstellerin, und es klappt nicht mit dem Schreiben. Beruflich und privat geht ihr halt alles daneben. Elfriede Jelinek hat, wie sich’s für eine Literatur-Nobelpreisträgerin gehört, diese Geschichte vom doppelten Scheitern einer Frau mit einem Halbhundert Textseiten verwickelt in einen antiken Mythos. Nämlich den von der Nymphe Eurydike, die von Orpheus eben nur als Nymphchen wahrgenommen wird und ansonsten gar nicht. Die pessimistische Konsequenz in diesem feministisch bewegten Script: Eurydike will nicht länger der Schatten sein von Orpheus, sondern nur noch Schatten, also nichts, also ausgelöscht. Deshalb der Titel „Schatten (Eurydike sagt)“, hinter dem eine teils wehleidige, teils bissig sarkastische Absage ans weibliche Dasein steckt. Und natürlich eine Männerbeschimpfung – neuerdings anstrengend zu erleben in der Berliner Schaubühne.
Die britische Regisseurin Katie Mitchell gilt als Multi-Media-Queen der Branche. Ist sie doch bekannt, berühmt, berüchtigt, dass sie Theatertexte auf der Bühne verfilmt – die Bühne ist das Set. Das Publikum darf nun staunend zuschauen, wie das mit allerhöchstem, allerteuerstem technischen Aufwand geschieht; da wuseln deutlich mehr Techniker durch die Kulissen als Schauspieler, hier: Jule Böwe und Renato Schuch. Den arg abgespeckten, schamlos aufs Wehleidige und Larmoyante reduzierten Jelinek-Text (genauer: eine monologische „Textfläche“) haucht Stephanie Eidt auf einem Hocker hockend aus einer Art Telefonzelle ins Mikro. Zeitgleich flimmert das mit massenhaft Kameras, Scheinwerfern, Video-Schleifen und Geräusche-Bändern in naturalistischen Kulissen Produzierte über eine am Bühnenhimmel aufgehängte Leinwand.
Natürlich spielt da nichts im sonnigen Uralt-Süden, sondern im düster kalten Norden von heute, vornehmlich in einem alten VW in einem Autobahntunnel sowie in einem grauen Fahrstuhl; im 99. Untergeschoss befindet sich das Schatten- beziehungsweise Totenreich. Orpheus ist jetzt ein viriler Popstar, und die immer wieder entnervt den leeren Laptop zuklappende Schreiberin Eurydike im kleinen Schwarzen oder nackt ist die zum obersten Groupie Degradierte. Die 75-Minuten-Filmerei erinnert in ihrer Grusel-Optik entfernt an David Lynch. Und das unentwegte, via Telefonzelle eingespeiste Lamento von Eurydike als diensthabende Heulsuse mochte selbst einen abgeklärten Tiefenpsychologen wie Siegmund Freud genervt haben – bei allem Verständnis für ihre missliche Lage einerseits als Liebesdürstige, die auf dem Trocknen hockt, und andererseits als Dichterin ohne Saft und Kraft ‑ schade um Jule Böwe, die immerhin brav und hingebungsvoll einen ausdrucksvollen Schmollmund herzeigt. Spätestens nach einer halben Stunde aber ist alles restlos klar in dieser simplen Versuchsanordnung einer Dauerdepression mit Opferlamm in der Hauptrolle. Trotzdem wird noch eine reichliche halbe Stunde lang eintönig weiter auf der Stelle getreten, gefilmt, geflimmert, gejammert und gekitscht.