von Wolfgang Schlott
Seit Anfang September 2016 ist es auf dem deutschen Büchermarkt: „Lebenslang für die Freiheit. Aufzeichnungen aus dem Gefängnis“, auf Türkisch „Tutuklandik“ (Wir sind verhaftet). Ihr Autor: Can Dündar, Chefredakteur der größten, seit 1924 existierenden türkischen Oppositionszeitung Cumhuriyet, der zwischen Dezember 2015 und Februar 2016 mit seinem Kollegen Erdem Gül in Untersuchungshaft saß. Ihre angeblichen Straftaten: Spionage, Verrat von Staatsgeheimnissen (Geheime Waffenlieferung der Türkei an die Terrororganisation IS) und indirekte Unterstützung der Gülen-Bewegung. Das Verfassungsgericht sprach sie am 24. Februar 2016 frei, doch auf Anweisung des türkischen Staatspräsidenten wurde das Strafverfahren gegen die beiden Journalisten wieder aufgenommen. In dem in aller Eile vorangetriebenen neuen Verfahren drohte beiden eine lebenslängliche Haftstrafe. Das Gericht entschied sich jedoch am 6. Mai 2016 für ein „milderes“ Strafmaß: fünf Jahre und zehn Monate für Dündar und fünf Jahre Gefängnis für Gül. An diesem Tag scheiterte, kurz vor der Urteilsverkündung, ein Attentat auf Can Dündar. Die Wachsamkeit seiner Freude von der Republikanischen Volkspartei (CHP) und das beherzte Eingreifen seiner Frau Dilek verhinderten die blutige Tat.
Zu diesem Zeitpunkt waren Dündars Gefängnisaufzeichnungen bereits im Istanbuler Verlag Can Yayinlari erschienen. Das Buch hatte der Autor, mit Ausnahme des letzten Kapitels, handschriftlich (weder Computer oder Schreibmaschine waren erlaubt) in seiner Zelle im 60 Kilometer westlich von Istanbul gelegenen Gefängnis Silivri fertiggestellt. Es besteht aus 37 Kapiteln, in denen der Gefängnisalltag und die psychische Befindlichkeit des Autors beschrieben werden, und es ist illustriert mit Dündars Handzeichnungen wie auch mit Fotos von Protestdemonstrationen und Solidaritätsaktionen wie auch mit Bildern seiner Frau und seines Sohns bei Solidaritätsempfängen in Straßburg oder Washington. Darüber hinaus gibt es Karikaturen und Zeitungsausschnitte, die einen vielseitigen Eindruck von der Reaktion auf die grobe Verletzung der Pressefreiheit vermitteln, die das autoritäre Erdoğan-Regime vor dem Putsch-Versuch des Militärs am 15. Juli 2016 beging.
Ungeachtet der willkürlichen Anschuldigungen gegen die beiden „Staatsfeinde“ und der zu erwartenden Sanktionen überrascht den Leser sicherlich eine Reihe von Details, die einen Einblick in den Ablauf eines Gefängnistages geben. Es sind die vielen genehmigten Besuche für den Untersuchungshäftling Dündar, die täglichen Pakete, die der prominente Häftling erhält, die von ihm handgeschriebenen Artikel für seine Zeitung, die sein Anwalt durch die Kontrollen schmuggelt, die unzähligen Sympathiebriefe, die ihn Tag für Tag erreichen, der unzensierte, rührende Brief seines Sohnes Ege, die zahnärztliche Spezialbehandlung in einer Istanbuler Universitätsklinik in Begleitung von zehn Bewachern und nicht zuletzt die ungeschminkten Notizen des Autors mit oft ironisch-sarkastischen Bemerkungen zur politischen Situation und zur Unterdrückung von Pressemeldungen in der Türkei. Kein Zweifel, Can Dündar, der die ersten vierzig Tage in Einzelhaft und dann sogar mit seinem Kollegen Erdem Gül in einer Zelle verbringt, ist bestens informiert, selbst Fernsehprogramme (soweit sie nicht abgeschaltet sind) und Rundfunk sind erlaubt. Und außerdem ermutigen ihn die zahlreichen Solidaritätsbekundungen seiner Berufskollegen und Sympathisanten, die sich vor der Betonburg Silivri als „Wächter der Hoffnung“ für die beiden inhaftierten Journalisten einsetzen. Auf diese Weise könnte zunächst der Eindruck entstehen, als ob die Strafbehörden mit rechtsstaatlichen Mitteln ihre Gefangenen behandeln und bei prominenten Insassen sogar besonders tolerant sind. Oder fiel die Haftzeit der beiden Journalisten in eine politische Übergangsphase, in der die Machtposition Erdoğans noch nicht so gefestigt war, dass er die Gerichts- und Strafbehörden nicht vollständig unter Kontrolle hatte? Ein Zustand, der nunmehr, nach dem missglückten Militärputsch und der Festlegung des autoritären Regimes, dass die Gülen-Clique der Urheber des Umsturzversuchs gewesen sei, eingetreten ist. Zu diesen Schlussfolgerungen gelangt Can Dündar im Vorwort der deutschen Ausgabe. Zu einem Zeitpunkt, als der Autor im August 2016 bereits seine Aufklärungsreisen durch Mittel- und Westeuropa begonnen hatte und zahlreiche Preise – auch in Vertretung aller demokratischen Kräfte in der Türkei – für seine vorbildliche publizistische Arbeit erhielt.
Mit welchen Erkenntnissen über die Unterdrückung und Verfälschung von Nachrichten über die Türkei wird der Leser während der Lektüre von „Lebenslang für die Wahrheit“ konfrontiert? Zu empfehlen ist zuallererst das Nachwort von Karen Krüger über Can Dündar unter der Überschrift „Die Türkei ist unser Land“. Es ist eine zeithistorische Reflexion über die brutalen Unterdrückungsmaßnahmen der verschiedenen Militärregimes gegen demokratische und republikanische Presseorgane wie auch gegen die kurdische Minderheit in der Türkei und zugleich eine Sympathieerklärung für den Autor, dessen ungebrochene kritische Haltung gegenüber der unkontrollierten Machtfülle Erdoğans immer wieder bewundernd hervorgehoben wird. Die aufmerksame Lektüre des Gefängnisberichts von Dündar bringt dann etwas zutage, was beim Überfliegen von Details leider verloren geht. Es ist die Verbindung von gefühlsgeladenen Begegnungen zwischen den Insassen des Untersuchungsgefängnisses und der schier ungebrochenen gegenseitigen Unterstützung der (noch) in Freiheit lebenden Sympathisanten und Freunde der inhaftierten Protagonisten. Sie widerspiegelt sich in dessen lebendiger Beschreibung von alltäglichen Ereignissen, den Besuchen aus der Außenwelt, der Bewertung von Presseberichten, der liebevollen Hingabe an seine Familie und der nüchternen Einschätzung der politischen Lage wie auch in seinen Bekenntnissen zur demokratischen Entwicklung in Europa. Ein Buch also, das eine Tiefenanalyse des türkischen autoritären Regimes liefert und zugleich vom ungebrochenen Willen der demokratischen Minderheit nach politischen Veränderungen berichtet.
Can Dündar: Lebenslang für die Wahrheit. Aufzeichnungen aus dem Gefängnis, Hoffmann und Campe, Hamburg 2016, 299 Seiten, 22,00 Euro.
Schlagwörter: Can Dündar, Erdogan, Gefängnisaufzeichnungen, Türkei, Wolfgang Schlott, Zensur