von Klaus Hammer
Als sich der französische Maler Claude Monet in den 1880er Jahren in dem Dorf Giverny bei Vernon, 80 km von Paris entfernt, niederließ und seinen Garten anzulegen begann, schien das wie ein Rückzug aus dem künstlerischen Leben. Die impressionistische Bewegung hatte längst ihren Höhepunkt überschritten, jüngere Künstler wie Seurat wollten die Vorherrschaft des Auges über den Verstand brechen und wieder Ordnung, Struktur und System in das Chaos des „Sehens“ bringen.
Aber dieser Garten von Giverny mit seinen Treibhäusern war für den alternden Künstler Monet kein Ort der Augenfreude allein, sondern ein Laboratorium der Moderne, in dem er in hartem, angestrengtem Ringen über drei Jahrzehnte seine „Studien- und Forschungsarbeit“ betreiben sollte. „Sein Atelier, das ist die Natur“, schrieb ein Kritiker, der ihn 1897 in Giverny besuchte. Der Garten mit seinen exotischen Seerosenarten und Wasserpflanzen, den Iris, den Trauerweiden und der grünen glyzinienüberwucherten japanischen Brücke lieferte dem Künstler im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten, von Wetter und Lichtverhältnissen, die unerschöpflichen Motive für seine bevorzugten Bilder der Spätzeit. Er wurde sein Kunstwerk, das eine ununterbrochene Serie neuer Kunstwerke hervorrief. Begünstigt durch ein langes Leben, vermochte Monet die letzten Konsequenzen aus seiner eigenen Malerei zu ziehen. Er reihte sich, der einstige Begründer einer schon längst als überlebt geglaubten Bewegung, selbst in die Schar der großen Anreger und Exponenten der Moderne im 20. Jahrhundert ein.
Die „Nymphéas“, wie er sie poetisch nannte, die Bilder der Seerosen, an denen er in verschiedenen, systematisch aufgebauten Phasen und Teilserien seit 1897 arbeitete und die er 1900 erstmals ausstellte, wurden zum künstlerischen Leitmotiv der späten Jahre. Wie ein schöpferischer Fotograf rückte er immer näher an das Motiv heran, verschob den Rahmen von Fassung zu Fassung, bis die Uferlinie oft völlig ausgeschlossen war. Auf der Oberfläche des Teiches zeichnen die Gruppen der Seerosen durch ihre Verteilung eine horizontale Ebene ab, steigen aber gleichzeitig vertikal zu einem Gipfel an, der den oberen Rand entzwei schneidet. Dutzende von Gemälden vernichtete der ständig an seiner Arbeit zweifelnde und verzweifelnde Künstler auch dann noch, als sich mit der zweiten Serie, die er 1909 ausstellte, die Bildformulierung im Wesentlichen geklärt hatte. 1916 begann er in einem eigens dafür eingerichteten Oberlichtatelier mit großen, auf Rollen laufenden Leinwandrahmen zu malen. Besuchern bot sich „ein seltsames künstlerisches Schauspiel: ein Dutzend Bilder, in einem Kreis auf dem Boden liegend…, ein Panorama aus Wasser, Seerosen, Licht und Himmel. In dieser Grenzenlosigkeit haben Wasser und Himmel weder Anfang noch Ende. Wir glauben uns in eine der allerersten Geburtsstunden der Welt versetzt.“
1927, fast ein halbes Jahr nach seinem Tode, wurden die Seerosenbilder – gemäß seinem Vermächtnis – in zwei eigens geschaffenen ovalen Sälen unter der Orangerie im Pariser Tuileriengarten der Öffentlichkeit übergeben. Nach den Plänen des Malers angeordnet, beschreiben sie in blauen, hellroten und violetten Farbschleiern den Kreislauf der Zeiten im Spiegel des Seerosenteiches von Giverny. Die „Sixtinische Kapelle des Impressionismus“ hat man sie auch genannt.
Wie ist der überwältigende Eindruck der Seerosenbilder zu erklären? Aus seiner langen Beschäftigung mit einer Unterwasserwelt, die sich spiegelt, in der kein Himmel zu sehen ist, außer seiner Spiegelung im Wasser, das die ganze Fläche ausfüllt, vollzog Monet einen für das Landschaftsbild überhaupt umwälzenden Schritt. Er entdeckte, dass es eine Landschaft ohne Horizont gibt, die jede Distanz zwischen Auge und Bild aufzuheben vermag. Der ovale Raumgrundriss der Orangerie versetzt den Betrachter in die Mitte der Bilder, er befindet sich selbst in der Malerei wie in einem Breitwand- und Panoramafilm, zu dem gerade 1927 die Grundlagen gelegt wurden.
Der Betrachter kann in diese Licht- und Wasserlandschaften eintauchen, sie umfassen ihn, tragen ihn mit im Fließen und Strömen eines Prozesses, der dem Bewusstsein, der Erinnerung gleicht. Das ist die letzte Konsequenz des Impressionismus und zugleich dessen Umschlagen in die Abstraktion. Das Unbestimmte einzufangen, das Flüchtige zu fixieren, den so vergänglichen und komplexen Ansichten Form und Platz zu geben – das waren damals die wichtigsten Bestrebungen der Moderne.
Wer heute Claude Monet in Giverny besucht, dem eröffnen sich farbenprächtige Szenerien im Rhythmus der Jahreszeiten: Panoramaartige Ansichten gewinnt man neben der Nahsicht von Blüten und Zweigen, sie geben einen Draufblick auf ein undurchdringliches Blätter- und Blütengewirr. Der Schatten einer Trauerweide fällt auf die Seerosen im Teich. Zu beiden Seiten des Hauptweges mit seinen von Kletterrosen überwachsenen Spalierbögen ziehen sich kunstvoll gestaffelte Blumenrabatten mit ihrer ungeheuren Blütenfülle. Zwei Boote liegen zwischen den Stämmen eines Bambuswäldchens vertäut. Über die Holzbrücke in japanischem Stil, die in wenigstens 50 Gemälden Monets auftaucht, wölbt sich ein Baldachin aus Glyzinien. Regentropfen bilden Perlen auf den langen Blättern der gelben Schwertlilie. Wie die Seerosen sind die Iris am Wasser zu einem häufig wiederkehrenden Motiv in Monets Malerei geworden. Als Farbtupfer tauchen sich öffnende Seerosenblüten aus den gelbgrünen Blättern auf dem Wasser auf. Das weiche Licht eines wolkenverhangenen Tages umhüllt üppiges sommerliches Grün. Herabfallendes leuchtend rotes und gelbbraunes Laub bedeckt im Herbst das Ufer des Teiches. Die Blütentrauben des Fingerhuts weisen den Weg zum rosa verputzten Haus mit den grünen Fensterläden. An dem großen Tisch im gelben Esszimmer mit japanischen Holzschnitten speisten auch die Freunde des Malers gemeinsam mit der Familie. Monets erstes Atelier im Erdgeschoss des Hauses diente mit seinen Bilderwänden mehr der Repräsentation, hier empfing der Künstler-Hausherr hochgestellte Gäste.
Marcel Proust hat in seinem Roman „In Swanns Welt“ Monets Garten beschrieben; auch Louis Aragon, der sich ebenfalls Giverny als Wohnsitz gewählt hatte, ließ eine Episode seines Romans „Aurélien“ hier stattfinden. Schon Cézanne, der Monet in Giverny besucht hatte, erkannte zu jenem frühen Zeitpunkt den Erkenntnisstand, den Monet über die Möglichkeiten von Malerei erreicht hatte: „Monet ist nur ein Auge, aber welch Auge!“ Kandinsky wurde in der Begegnung mit Monets Bildern mit der Autonomie der Malerei konfrontiert. Auch der russische Konstruktivist Malewitsch oder sein holländischer Kollege Piet Mondrian fanden Anregung bei Monets Bilder-Serien.
Monets Sicht der Energie als ein kontinuierliches Feld von Nuancen sollte für die abstrakte Malerei 30 Jahre nach seinem Tod von großer Bedeutung werden: Für Jackson Pollock, Sam Francis und die abstrakten Expressionisten in New York ebenso wie für Bazaine, Masson und andere. Wieder eine Generation später, seit etwa 1970, begann auch die Kunstgeschichte über das Alterswerk des Meisters von Giverny neu nachzudenken und ihn neben Cézanne als zweiten Patriarchen der Moderne einzuordnen.
Heute befinden sich die Hauptstücke der „Nymphéas“ zwar in der Orangerie, aber auch viele künstlerisch nicht weniger bedeutsame Teilstücke – etwa 20 Panneaux waren nach dem Tode Monets im Atelier zurückgeblieben – in den großen Museen Europas und der Übersee wie in Privatbesitz. Und die Gärten von Giverny blühen in voller, ständig wechselnder und sich erneuernder Farbenpracht, als wäre der Meister noch mitten in der Arbeit.
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